Erasmus-Erfahrungsbericht aus der Sicht einer Stipendiatin
Zeit, über sich hinauszuwachsen
Erasmus in Spanien. Zwischen Tapas und Strand, Bachata und Ausflügen verbringe ich mein 8. Medizin-Fachsemester in Alicante an der Costa Blanca. Was sich anhört wie ein verlängerter Sommerurlaub ist eine Zeit voller Höhen und Tiefen, Herausforderungen und Hochgefühle, Enttäuschungen und Überraschungen.
Warum mache ich ein Erasmus?
Ich sollte im besten Fall im Februar zurückkehren und mir sagen können: „Das war klasse! Ich habe eine Menge gelernt! Ich bin bereit für das weitere Studium und kann die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, für die Zukunft mitnehmen!“ Im schlechteren Fall hieße es vielleicht: „Ohje, das war auslaugend. Ich bin müde und brauche erstmal Erholung. Und dafür habe ich ein Semester verloren!“
Mein Studium läuft bis jetzt sehr gut: alles in Regelstudienzeit, erstes Staatsexamen mit 1,0 und ein Semester Forschung für die medizinische Doktorarbeit habe ich hinter mir. Nebenher arbeite ich, engagiere mich ehrenamtlich und nehme mit Freude an den Angeboten der Hanns-Seidel-Stiftung teil. Mein Leben ist vollgepackt. Halt – fehlt genau dadurch nicht der Raum, über den eigenen Horizont zu schauen?
Wie wertvoll ist die Erfahrung, in einem anderen Umfeld zu studieren, in einer anderen Sprache, mit anderen Menschen, und anderen Herausforderungen, die mich wachsen lassen! …und nebenbei die Möglichkeit zu haben, sich mit Dingen zu beschäftigen, für die sonst keine Zeit bleibt.
Erasmus = neue Eindrücke in Kombination mit mehr Raum, in einem zeitlich begrenzten Rahmen. Und mit der Hanns-Seidel-Förderung zusätzlich zur Erasmus-Förderung ist es auch aus finanzieller Sicht kein Problem. Was mich wohl erwartet…?
Die erste große Herausforderung
Das Erasmus-Programm der Europäischen Union wurde 1987 gegründet. Was soll daran schon so aufwendig sein? Ganz falsch gedacht: B2-Sprachzertifikat, Motivationsschreiben, erweitertes Führungszeugnis, Kursauswahl, Learning Agreement, Flüge, Wohnungssuche – um nur ein paar To-Dos zu nennen. Mit dem Spanisch-Kurs fange ich schon ein Jahr vorher an, um mein Sprachniveau rechtzeitig auf B2 zu bringen. Darauf folgt die Auswahl der Wunsch-Universität und die Bewerbung auf Englisch und Spanisch. Nur wenig später erhalte ich die erhoffte Zusage!
Jetzt steht die ausführliche Auseinandersetzung mit den Kursen an: Punkte, Anrechenbarkeit, Überschneidung? Die Erstellung des Learning-Agreements bedarf vieler Mails, Telefonate und der doppelten Bestätigung beider Universitäten. Amtsgänge, Terminabsprachen, viel Hinterhertelefonieren, Flugbuchung und unzählige Bewerbungen auf dem spanischen Wohnungsmarkt später: nun stehe ich kurz vor dem Beginn meines Abenteuers. Die Vorfreude ist mit der Vorbereitung gewachsen, aber sicherlich hätte ich in der gleichen Zeit ein doppeltes Semester studieren können, denke ich scherzhaft.
Komfortzone ade!
Als mich der Flughafenshuttle eines Nachmittags Mitte September am Hafen von Alicante rauslässt, empfängt mich eine große Hitze. Einen Bus später bin ich in der WG, die ich von Deutschland aus reserviert habe. Sie ist frisch renoviert, aber leider etwas dezentral, 30 min fußläufig von der Innenstadt, gelegen. Unten sind Bars und kleine Läden, bis spät in die Nacht ist es hell und laut. Der Verwalter und mein argentinischer Mitbewohner empfangen mich sehr freundlich und laden mich in die Bar gegenüber ein. Dass ich nun meine Spanisch-Fähigkeiten anwenden kann, macht mich ziemlich stolz.
Am nächsten Tag breche ich zum Medizin-Campus auf, um mich vor Ort anzumelden. Während ich in der Schlange warte, komme ich schnell mit ein paar anderen Erasmus-Studentinnen ins Gespräch. Wir verabreden uns danach zum Strand, der nicht weit entfernt ist. Nette Mitbewohner und direkt Freunde gefunden – Jackpot! Am Strand kommen immer mehr Leute dazu: die meisten sind aus Italien oder Deutschland, aber auch aus Mexiko, Belgien und Österreich. Besonders in der Anfangsphase möchte jeder Anschluss finden. Die Angebote des Erasmus Student Network, das in allen Erasmus-Städten vertreten ist, sind dafür perfekt. Salsa und Bachata tanzen gehe ich jedoch auf eigene Faust. Dadurch komme ich mit vielen Spaniern in Kontakt, führe Gespräche und versuche mehr über sie zu erfahren.
Gleiches gilt für ein paar Leute, die ich fast täglich vor der Bar neben meinem Haus sehe. Irgendwann werde ich von Abel angesprochen: ob ich dort wohnen würde und mir das Fahrrad gehöre, das da steht? Tatsächlich habe ich mir in einem Second-Hand-Laden ein Fahrrad gekauft, um schneller in der Innenstadt und der Uni zu sein. Ich hatte es mangels anderer Optionen vor dem Haus abgeschlossen, woraufhin mir prompt der Sattel gestohlen wurde. „Ich sah einen Typen, der den Fahrradsattel abgeschraubt hat, daraufhin bin ich ihm hinterher.“, meint Abel und hält mir den Sattel hin.
Ich freue und bedanke mich und nehme mir fortan hin und wieder Zeit, mich in die Bar zu setzen. Abel und seine Freunde kommen aus dem Kongo, Kolumbien, Venezuela und Alicante. Sie erzählen mir aus ihrer Heimat und dem, was sie hier beschäftigt.
Die spanischen Vorlesungen sind ähnlich wie in Deutschland, wobei zu jedem Fach ein ein- bis zweiwöchiges Praktikum gehört. Das Pharmakologie-Praktikum hat Schulklassen-Atmosphäre: Jeden Moment kann man aufgerufen werden und muss auf Spanisch eine Frage beantworten, wofür man eine mündliche Note bekommt. Am Anfang fällt das Verstehen in der Fremdsprache schwer, doch recht bald funktioniert es besser. Irgendwann fühlt es sich fast selbstverständlich an. Die spanischen Studierenden sind hochmotiviert, da sie über ihre Leistung die Möglichkeit auf Stipendien haben und zudem die Wahl ihrer Spezialisierung davon abhängt. Persönlichen Kontakt mit ihnen aufzubauen ist allerdings nicht so einfach, trotz Gruppenarbeiten. Sie bleiben eher unter sich. Das ist auch verständlich, wenn man bedenkt, dass wir nicht lange hier sind. Auf dem Campus treffe ich jedoch überall Erasmus-Studierende aus unserer mittlerweile sehr großen Gruppe. Manchmal gehen wir zum Lernen nach der Uni gemeinsam in die Bibliothek, aber am liebsten in verschiedene Cafés in der Stadt.
Die vielen neuen Kontakte in einer neuen Umgebung, Gespräche und Studieren auf Spanisch und viel Zeit außerhalb der Komfortzone sind auf Dauer sehr anstrengend. Deshalb kommt der Besuch aus der Heimat gerade richtig für mich. Gemeinsam wollen wir das Land besser kennenlernen und nehmen uns dafür einen Mietwagen.
Eine Pechsträhne
Der erste Tag führt uns in ein wunderschönes Örtchen namens Guadalest: weiße Häuschen und Türmchen thronen auf einem Hügel zwischen zwei Gebirgsketten mit Blick auf das Meer und einen großen türkisfarbenen See.
In Valencia haben wir viel zu wenig Zeit. Eine geplante Katamaran-Fahrt fällt ins Wasser, weil uns eine falsche Auskunft gegeben wurde. Vor der Weiterfahrt am nächsten Tag stellen wir unser Auto für wenige Minuten unter dem AirBnB ab, um unser Gepäck zu holen. Als wir zurückkommen, steht ein hupendes Auto hinter uns und die Frau am Steuer beschwert sich mit bösem Blick. Sie will in ihre Garage. Wir entschuldigen uns und fahren eilig weg. Kurz darauf bemerken wir, dass unser Hinterreifen platt ist. Der Pannenhelfer, den wir rufen, zeigt uns den sauberen Schnitt, den das Messer hinterlassen hat… wir denken beide an dieselbe Person. Wir müssen zum Flughafen abgeschleppt werden, nochmals Geld zahlen und können mit einem Ersatzwagen bei Nacht weiterfahren.
Saragossa im Nordosten Spanien hält mit der mächtigen Basílica del Pilar, dem beeindruckenden Aljafería-Palast und römischen Ruinen sehr viel Geschichte bereit. Wir lassen uns durch die kleinen Gassen treiben, in der Menschen zu jeder Tageszeit draußen sitzen und essen, nach typischer spanischer Manier. Unglücklicherweise gibt es nochmals einen Zwischenfall: Auf einem Parkplatz fährt uns jemand eine Delle in den Mietwagen.
Unsere Tour führt uns weiter nach Pamplona, in die Region Navarra, wo wir schöne Wanderungen unternehmen. Hier verläuft auch der bekannteste Jakobsweg, der Camino Frances, von dem wir eine Teilstrecke laufen. In Segobia, unserem vorletzten Stopp, bekommen wir zwei teure Strafzettel, weil wir die Gebührenpflichtigkeit des Parkplatzes nicht bemerken (es gibt ein System mit unterschiedlich gefärbten Linien in Spanien). Das Wetter ist inzwischen sehr ungemütlich, aber für die Natur und die unzähligen Schlösser, Burgen und Kathedralen haben sich alle Strapazen gelohnt.
Die Früchte ernten
Hier im Erasmus-Leben hat sich inzwischen so etwas wie Alltag eingestellt. Die Uni steht regelmäßig auf dem Tagesplan und Unternehmungen konzentrieren sich auf das Wochenende. Vormittags bin ich meistens im Praktikum im Krankenhaus und nachmittags besuche ich Vorlesungen.
Mein erstes Praktikum absolviere ich in der Geburtshilfe. Vier Vormittage lang begleiten wir Ärztinnen in „Consultas“ (Sprechstunden), „Planta“ (auf Station), und schließlich im „Paritorio“ (dem Kreißsaal). An einem Tag in den Consultas komme ich ziemlich enttäuscht heim. Ich darf kein einziges Mal selbst aktiv werden, wobei es reichlich Möglichkeiten für Anamnese und Ultraschall gäbe. Geburtshilfe steht in Spanien bereits im sechsten Semester im Lehrplan, sodass man als klinisch unerfahren eingeschätzt wird. Darüber hinaus führt die Tatsache, dass ich gelegentlich Begriffe auf Spanisch nicht weiß, dazu, dass ich wenig beachtet werde. Allerdings gleicht ein Ereignis die schlechten Erfahrungen wieder aus: ich sehe meine erste Geburt, in dem Fall einen Kaiserschnitt. Plötzlich zu sehen, wie das Kind aus dem Mutterleib kommt, ist ein sehr bewegender Moment für mich.
Neben der Uni nehme ich mir Zeit für das, was zuhause immer zu kurz kommt. Lange vorgenommene Bücher, Podcasts und Videos finden meine Aufmerksamkeit. Mir fällt auf, dass alle Erasmus-Leute zwar einerseits ähnliche Eindrücke, Herausforderungen und Unsicherheiten haben. Andererseits hat jeder seine eigenen Gründe, hier zu sein. Das spiegelt sich in der Art wider, wie jeder einzelne seine Zeit hier gestaltet.
Dieser Gedanke hilft über meine Erwartungen hinweg. „Nimm alles mit was du kannst!“, „Genieß’ jede Sekunde!“. Das sind Sätze, die ich häufig höre. Und ja, die Zeit vergeht viel zu schnell. Aber muss ich alles, jedes Event und jeden Trip mitgenommen haben, um am Ende zufrieden zu sein? Ich glaube nicht. Während also Alltag im Erasmus eingekehrt ist, werden die kleineren Dinge wieder größer. Damit überkommt mich eine tiefe Dankbarkeit – für die Möglichkeit, hier sein zu können, aber auch für das wunderbare Leben, das mich zuhause wieder erwartet.
In den nächsten Wochen steht viel Lernen an, gemeinsam mit meinen Erasmus-Freunden. Wir sind füreinander da, ob persönlich oder in der Uni. Zwar kann ich mir nicht so viele Kurse anrechnen lassen, dass ich ein deutsches Semester komplett ersetzen kann, aber ich kann mir die übrigen Semester etwas entzerren. Schließlich bereichert die Zeit um das Lernen herum das Studium zusätzlich.
Ob es nun ein Erasmus-Aufenthalt, ein Auslandspraktikum oder etwas Vergleichbares ist: du kannst nur profitieren. In einer Fremdsprache studieren, ein Land weitaus besser als im Urlaub kennenlernen, immer wieder aufs Neue inspiriert und begeistert werden, über sich hinauszuwachsen – dies und mehr erwartet dich. Wie du gelesen hast, verläuft alles meist ganz anders als gedacht. In den herausfordernden Momenten hilft es, sich immer wieder vor Augen zu führen, warum man hier ist und dass man nie allein ist. Dann kann man am Ende zurecht sagen: „Das war klasse! Ich habe eine Menge gelernt! Ich bin bereit für das weitere Studium und kann die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, für die Zukunft mitnehmen!“.
Die wichtigsten Fakten zu Erasmus
- Die Vorbereitung ist zeitaufwendig, vor allem sollte man bereits sprachlich ein gutes Niveau beherrschen
- Die WG-Suche im Vorfeld erspart Arbeit vor Ort, geht aber mit Risiken einher (Betrug, schlechte Lage…)
- Man sollte erholt und bereits einige Tage vor Vorlesungsbeginn ankommen – es wird anstrengend!
- Kontakte knüpfen und Anschluss finden ist nirgendwo so leicht wie in einem Erasmus
- Die finanzielle Unterstützung von Erasmus und evtl. der Hanns Seidel-Stiftung erleichtert das Vorhaben
- Es ist sicher kein „verlorenes“, sondern ein „gewonnenes“ Semester!