R.P.P. - Requiescant post Präpkurs
Vom ersten Moment im Präpsaal bis zum Abschied auf dem Friedhof
Am Grab eines Menschen zu stehen, den man gar nicht kannte und dessen Name man nur einmal auf der Beerdigung hörte, und trotzdem emotional ergriffen davon zu sein, ist eine Situation, die einem nicht alltäglich widerfährt. Trotzdem habe ich es erlebt. Doch wie kam es zu dieser Situation?
Alles begann im Wintersemester 2022, dem dritten Semester meines Medizinstudiums. Für mich und meine Kommilitonen war es ein besonderes Semester, denn Anatomie stand endlich auf dem Stundenplan und damit auch der sogenannte „Präpkurs“, in dem man die menschliche Anatomie anhand des Sezierens von Körperspendern – also Verstorbenen, die sich nach ihrem Ableben der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatten – lernt.
So betraten wir am ersten Präpariertag alle ganz aufgeregt den Präpsaal. Einerseits neugierig darauf, was uns erwarten würde, andererseits aber auch mit einem mulmigen Gefühl, da manche von uns gleich zum ersten Mal einen toten Menschen sehen und darüber hinaus auch das erste Mal mit einem Skalpell hantieren würden. Wir begannen, die Körperspender, welche zuvor in Formaldehyd-getränkte Tücher gewickelt waren, abzudecken und uns an deren puppenhaften Anblick zu gewöhnen. Daraufhin folgte ein erstes Berühren – und wir fingen noch am selben Tag mit dem Abpräparieren der Haut an. In den darauffolgenden Wochen legten wir immer mehr Strukturen des Körpers frei, um unser Wissen über die Anatomie des Menschen so genau wie möglich zu vertiefen.
Sicherlich fragt sich der eine oder die andere nun, was seit dem Ableben des Spenders mit dessen Körper passiert ist. Tatsächlich liegt der Tod des Menschen beim Beginn des Präpkurses schon ein bis zwei Jahre zurück. In dieser Zeit wurde der Körper präpariert und konserviert – also mit Formaldehyd haltbar gemacht, indem die Blutgefäße damit durchspült wurden und somit sämtliche Keime abgetötet sowie Fäulnis verhindert wurden. Auch Kleidung, Kopfhaar und Schmuck wurde entfernt, sodass wir Studierenden dem Verstorbenen zuerst als sehr anonym und puppenhaft wirkenden Körper begegneten.
Das änderte sich dann zu Beginn des nächsten Semesters, in dem eine Trauerfeier für die Körperspender anstand. Ihre sterblichen Überreste waren zuvor schon eingeäschert und in einem großen Grab beigesetzt worden. Die Trauerfeier selbst sollte also vor allem den Angehörigen, aber auch den Studierenden dazu dienen, Abschied zu nehmen.
Die ganze Veranstaltung wurde dabei von den Teilnehmern des Präpkurses selbst organisiert. Zur musikalischen Untermalung gründeten sich ein Streichorchester sowie ein Chor, weitere Studierende kümmerten sich um Kerzen, wieder andere um den Blumenschmuck. Ich engagierte mich dabei unter anderem in der Blumengruppe. Deren Aufgabe bestand darin, Angebote für Gestecke und einen großen Kranz einzuholen, zu vergleichen und schließlich zu bestellen. Weiterhin sollten beim Gang zum Grab Blumen an Angehörige und Studierende ausgegeben werden, um diese beim Abschiednehmen dort niederzulegen.
Am zweiten Tag des vierten Semesters war es schließlich so weit: Etwa 500 Leute kamen zusammen, um in der kleinen Friedhofskapelle und auf dem Platz dahinter den Worten des Pfarrers und der Studierenden zu lauschen, welche in ihren Reden vor allem Dankbarkeit und Respekt gegenüber den Körperspendern ausdrückten. Musikalisch untermalt wurde das Ganze vom Streichorchester und dem Chor. Später wurden dann die Namen der Personen, die ihren Körper der Wissenschaft gespendet hatten, verlesen und für jede einzelne wurde eine Kerze angezündet. Anschließend begab sich ein langer Trauerzug von der Kapelle zum Grab, um dort – jeder auf seine eigene Art und Weise – Abschied zu nehmen. Manche schwelgten in Erinnerung, manche weinten, andere lachten. Eine Familie lief über die Wiese hinter dem Grab und streute Rosenblätter, andere suchten das Gespräch mit den Studierenden. Besonders emotional ergriff mich die Erzählung einer älteren Dame, die einer Kommilitonin mitteilte, dass das Lied, das gerade am Grab gespielt wurde, auch an der Hochzeit mit ihrem Mann – einem der Körperspender – gespielt worden war und deren Liebe somit mit dem gleichen Lied endete, wie sie angefangen hatte.
Rückblickend waren der Präpkurs und vor allem die Beisetzung danach eine sehr prägende und einzigartige Erfahrung. Der Tag und somit auch der Präpkurs endeten schließlich noch bei einer Art „Leichenschmaus“, einem Zusammensein bei Kaffee und Kuchen, bei dem die Möglichkeit bestand, sich mit den Angehörigen auszutauschen und mehr über das Leben der Personen zu erfahren, von denen wir selbst nur noch den Körper kennengelernt hatten.