Stochastik: Ly Viet Hoang
Mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Promotion
Dass man in der Mathematik eine hohe Frustrationstoleranz braucht, ist für viele von uns nichts Neues. Der frischgebackene Doktor Ly Viet Hoang erlebte dies bei seiner Grundlagenforschung in der Stochastik allerdings auf einem höheren Niveau, als es je im Mathe-Unterricht vorkam. Der nun ehemalige Promotionsstipendiat aus Ulm beschäftigte sich in seiner Dissertation mit harmonisierbaren, alpha-stabilen Zufallsprozessen. Was genau sich dahinter verbirgt und inwieweit Kurven abseits der Gaußschen Normalverteilung eine Rolle in seinem Alltag spielen, erzählt er in unserem Interview.
Stell dir vor, wir träfen uns auf Kloster Banz beim Mittagessen im Rahmen eines Seminars. Was würdest du über dich erzählen?
Hi, ich bin Viet. Nett euch kennenzulernen! Ich bin inzwischen ehemaliger Promotionsstipendiat in der Mathematik am Institut für Stochastik an der Universität Ulm. Mein Lieblingsseminar auf Kloster Banz war die selbstgestaltete Promovendentagung, und wenn man mich nicht im „Bierstübla“ findet, bin ich wahrscheinlich gerade im Pool oder in der Sauna. Und ganz wichtig: Wenn ich mich gerade nicht mit der Mathematik beschäftige, mache ich in meiner Freizeit die Trails auf dem Mountainbike unsicher!
Gut, dass ich dich dann hier, mal ohne Fahrrad, erwische. Wie war dein akademischer Werdegang?
Irgendwie war ich schon immer in Ulm. Zwar bin ich nicht in Ulm geboren, aber hier zur Schule gegangen. Nach dem Abi wollte ich eigentlich Medizin studieren, aber dazu hat es notentechnisch nicht ganz gereicht. Auch mit dem Medizinertest konnte ich nicht wirklich etwas reißen. Das war aber halb so schlimm, denn gerade beim Medizinertest habe ich gemerkt, was mir wirklich liegt – mir abstrakte Dinge vorzustellen und grundsätzlich alles, was mit Zahlen und Logik zu tun hat. Sobald man viel auswendig lernen musste, war ich miserabel. Da ich schon in der Schule ziemlich gut in Mathe war, bin ich dann zum Mathe-Studium gekommen.
In Ulm habe ich dann Wirtschaftsmathematik im Bachelor und Master studiert, hier und da mal ein Praktikum gemacht und ein Auslandsjahr in den USA verbracht. Da ich Zufallsprozesse und Statistik schon immer spannend fand, bin ich dann für die Promotion am Institut für Stochastik gelandet. Seit April 2019, dem Beginn meiner Promotion, war ich in der Hanns-Seidel-Stiftung.
Wann stand für dich fest, dass du promovieren möchtest? Wie fiel die Entscheidung für deinen Doktorvater oder den Standort?
Kurz vor der Promotion und der Masterarbeit habe ich ein sechsmonatiges Praktikum bei einem großen Versicherer aus München absolviert. Fast alle meine Studienfreunde sind irgendwo in der Beratung oder Versicherung gelandet. Das Umfeld Unternehmensberatung und Bankwesen hatte ich bei einem Praktikum im Bachelor schon kennengelernt.
Ich war ehrlich gesagt zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht bereit, arbeiten zu gehen. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass ich nicht ganz glücklich mit dem Praktikum und dem Großstadtleben war. Wäre ich woanders gelandet, hätte ich mich vielleicht nie für die Promotion entschieden. So aber hat sich der Alltag in den Praktika noch nicht richtig angefühlt und ich hatte Interesse daran auszutesten, ob ich in der Forschung weiterkäme. Und wie der Zufall es so wollte, wurde damals eine Promotionsstelle am Institut frei. Da habe ich dann gar nicht lange überlegt, meinen Betreuer einfach mal angeschrieben und gefragt, ob sich aus einer Masterarbeit auch eine Promotion entwickeln könne. Da bin ich nun seit April 2019 dabei und habe im September meine Dissertation abgegeben. Die Verteidigung folgt dann spätestens am Ende des Jahres 2024.
Du hast deine Dissertation im Bereich der Stochastik verfasst. Was beinhaltete dein Promotionsvorhaben?
Ich habe statistische Schätzung für sogenannte harmonisierbare alpha-stabile Zufallsprozesse entwickelt. Diese Prozesse sind eine Verallgemeinerung von Gauß-Prozessen (jeder von euch hat hoffentlich zumindest einmal von der Gaußkurve gehört). Das Besondere an diesen Prozessen ist, dass sie Phänomene mit „unendlicher Varianz“ modellieren können. Darunter kann man sich Extremszenarien, wie einen Börsencrash oder Schäden durch Naturkatastrophen oder Kriege vorstellen. Man kann damit auch das Wachstum von Netzwerken wie dem Internet modellieren.
Wie berichtest du von deinem Dissertationsprojekt auf Partys und Familientreffen?
Am besten gar nicht, um die Vibes nicht zu killen. 😀
Aber Spaß beiseite. Ich beschreibe eine bestimmte Klasse von zufälligen Prozessen, die noch nicht so weit erforscht ist und gebe Schätzungen für bestimmte Charakteristika, die diese Prozesse beschreiben. Aus diesen Schätzungen kann man dann versuchen, die Prozesse zu simulieren oder Vorhersagen zu treffen.
Wie viel mehr ich erzähle, hängt dann davon ab, ob und welche Nachfragen gestellt werden.
Wie bist du auf dein Dissertationsthema gekommen?
Das hat sich aus einem wirtschaftsmathematischen Background mit Versicherungen ergeben. Mein Thema wurde mir in einer ähnlichen Form von meinem Betreuer vorgeschlagen und dann begann ich zu schauen, welche offenen Fragen es gab, die ich angehen konnte.
Was fasziniert dich besonders an deiner Forschung?
Die Zufallsprozesse, die ich betrachte, besitzen eine Reihe von interessanten Eigenschaften, die man eindeutig in der Natur und im echten Leben beobachten kann. Aber diese Realitätsnähe erschwert es auch, mit ihnen zu arbeiten, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Es gibt sehr viele Resultate über Gaußsche Prozesse. Aber viele Dinge im Leben sind gar nicht normalverteilt (gaußverteilt), warum sollte man also Methoden verwenden, die für Gauß-Prozesse entwickelt wurden?
Wie hat sich dein Thema seit der Festlegung entwickelt, zu welchen Teilen stimmt es noch mit deiner Ausgangsidee überein, was hat sich verändert?
Mathematik kennt keine Grenzen und so häuften sich mit der Zeit immer mehr Fragen an, die es zu beantworten gilt. Irgendwann muss man sich dann schon stark einschränken, damit das Fass nicht überläuft. Hilfreich ist hierbei, dass mit der kumulativen Dissertation eine Anzahl an Paper vorgegeben ist, die man publiziert und eingereicht haben muss.
Welche Hürden und Schwierigkeiten gab es für dich im Forschungs- oder Schreibprozess?
In der Mathematik ist es so, dass man manchmal monatelang versucht, etwas zu beweisen, was gar nicht wahr ist. Das heißt letztlich, dass manches einfach nicht funktioniert. So etwas weiß man natürlich nicht im Vorfeld, ohne es probiert zu haben. Die verlorene Zeit bekommt man nicht zurück, denn man kann kein Paper veröffentlichen, in dem steht: „Ich habe dies und das versucht, es aber leider nicht geschafft.“
Der Review-Prozess der Journals ist natürlich die andere nervenaufreibende Sache. Man hört monatelang nichts und dann wird das Paper auf einmal ohne Begründung abgelehnt. In der Zeit heißt es einfach: Zähne zusammenbeißen und weitermachen.
Was motivierte dich, bei solchen „Durststrecken“ bei der Stange zu bleiben und weiterzumachen?
Meine Kollegen und Freunde. Wir sitzen alle im selben (Promotions-)Boot, daher ist es einfacher, einander zu verstehen und zu helfen. Aber auch meine Familie steht mir immer zur Seite.
Was tust du als Ausgleich zum wissenschaftlichen Schreiben und Arbeiten?
Ich bin leidenschaftlicher Radfahrer und hauptsächlich auf dem Mountainbike unterwegs. Ich liebe die Natur und Berge und es hilft mir einfach unglaublich viel, wenn ich mich nach einem langen Tag am Schreibtisch aufs Rad setze und eine Runde drehe.
Alles von Straße, Forstweg bis Downhill-Trail kommt bei mir unter die Räder. Gemütlich dahin rollen und abschalten, oder sich so sehr auf den Trail fokussieren und im Tunnel versinken, dass alles um einen herum nebensächlich erscheint.
Ich nehme hier auch hin und wieder mal eine Herausforderung an und messe mich gerne mit anderen bei einem Rennen – alles nur zum Spaß natürlich. Übers Mountainbiken könnte ich ewig reden – vielleicht mal, wenn wir uns auf Kloster Banz sehen.
Hast du schon Ideen, wie es nach Abschluss der Promotion für dich weitergehen soll?
Ich glaube, für mich ist es nach der Promotion an der Zeit, mal etwas anderes zu sehen. Ich werde die Uni daher verlassen. Wo ich aber genau landen werde, das lasse ich mir noch offen.
Wir gratulieren dir zum Doktorgrad und hoffen, dass du für deine Zukunft nur positive Extremszenarien modellieren musst!