Praktikum im HSS-Büro in Jordanien
Inmitten eines aktiven Vulkans
Von Kriegen umzingelt
„IN JORDANIEN?“ war immer die erste Frage, wenn ich jemandem erklärte, wo ich mein Auslandspraktikum machen würde: Im Regionalbüro der Hanns-Seidel-Stiftung in Amman, der Hauptstadt Jordaniens. Kein Wunder, dass mein Umfeld oft entsetzt von meinem Vorhaben war: Die Region, in die ich reisen will, den „Nahen Osten“, verbinden viele mit Diktatur, Terror, Flucht – und vor allem Krieg. Seit über einem Jahr erschüttert ein Krieg die Region. Ständig besteht die Gefahr, dass dieser zu einem Flächenbrand ausartet. Als Antwort auf die brutale Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023 führt Israel mittlerweile an mehreren Fronten einen erbitterten Krieg gegen Terrororganisationen und Staaten, die sie unterstützen. Jordanien – und damit auch ich – steht nicht nur bildlich, sondern auch geografisch zwischen diesen Fronten. Es liegt genau zwischen Israel und dem Iran, grenzt im Osten an den Irak, im Norden an Syrien und teilt seine gesamte westliche Grenze mit Israel und dem West-Jordanland. Es ist Partner des Westens, aber auch Teil der Arabischen Liga und pflegt diplomatische Beziehungen mit der ganzen Welt. Über die Hälfte der Bevölkerung ist palästinensischer Abstammung. Egal wo man in Jordanien ist – der Krieg ist immer in unmittelbarer Nähe.
Der Krieg am Horizont
Auf dem Weg zu verschiedenen Projektbesuchen im Süden des Landes fahre ich mit meinen Kollegen den Highway an der Grenze mit Israel/Palästina entlang. „Die Hügel da drüben“, sagt meine jordanische Kollegin und deutet auf sandige Erhöhungen, die sich vielleicht zwei Kilometer entfernt am Horizont abzeichnen, „dort ist das Westjordanland“. Dass hier die Grenze zwischen Krieg und Frieden verläuft, fällt kaum auf. Nur unsere GPS-Systeme zeigen, dass hier etwas nicht stimmt. Ich schaue auf das Tote Meer und die palästinensischen Gebiete dahinter – und laut meinem Handy bin ich noch am Flughafen in Amman, die Kollegin neben mir in Beirut, das Navigationssystem unseres Autos kämpft sich derweil durch die Straßen von Kairo. Meine Kollegen erklären mir, dass das hier öfter passiert: Die Signale globaler Navigationssysteme werden überschrieben, um diese funktionsunfähig zu machen. Vor allem nahe der Grenze soll diese Taktik potenzielle Angreifer einschränken – es trifft aber auch das zivile Leben. Die Straßen können ohne Navigation zu einem Labyrinth werden. Auch der kommerzielle Flugverkehr wird so immer wieder gestört.
Oben im Norden besuchen wir Frauen in Dörfern im Jordantal. Sie leben nahe der Grenze zum Westjordanland und können jeden Tag auf die Hügel des palästinensischen Gebiets blicken. Auch hier kommt es seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Israelis und Palästinensern, auch unter Einsatz von Luftangriffen und Panzern. Für die Frauen in den Dörfern des nördlichen Jordantals ist der Krieg zwar hinter einer scheinbar unüberwindbaren Grenze weit entfernt – und doch so nah. Ein paar Mal wären sie nachts wach gelegen, weil sie Explosionen und laute Motoren in der Ferne vom Schlafen abhalten, erzählen sie mir. „Es sind nicht nur die Geräusche“, erklärt mir eine von ihnen. „Es sind die Gedanken daran, was dort gerade passiert.“ Auf ihren Handys zeigen sie mir Bilder und Videos, in denen man blitzende Lichter und Kampfflugzeuge über den Hügeln sieht, die gerade in der Nachmittagssonne so still und friedlich vor mir liegen.
Der Krieg über dem Kopf
Die blitzenden Lichter und lauten Explosionen bleiben nicht am Horizont. Am Abend des 1. Oktober liege ich, noch erschöpft von meinem ersten Arbeitstag, in meinem Bett in Amman, als ich das erste Knallen höre. Es klingt wie Donner – und ich wundere mich noch, weil Gewitter und Regen in Jordanien nicht gerade häufig vorkommen. Ich schaue auf mein Handy: EILMELDUNG Iran feuert rund 200 Raketen auf Israel. Auf ihrem Weg nach Osten überqueren diese Raketen auch Jordanien – und fliegen direkt über unsere Köpfe. Ich gehe zu meinem Fenster. Die Raketen sehen aus wie hellere und größere Sternschnuppen. Sie sind auch langsamer: Wie Flugzeuge ziehen sie über Amman hinweg auf dem Weg zu ihrem Ziel. Wenn man nicht wüsste, dass sie dort für Tod und Zerstörung sorgen sollen, sähen sie eigentlich sogar ganz schön aus. Meine Kollegin schreibt mir: „Mach dir keine Sorgen, wir sind sicher, aber bleib vom Fenster weg, geh am besten in einen fensterlosen Raum.“ Beschämt von meiner eigenen Planlosigkeit setze ich mich wieder auf mein Bett – dass man nicht noch extra sein Fenster aufmachen sollte, wenn Raketen in der Luft sind, hätte ich mir eigentlich auch früher denken können. Ich bekomme eine E‑Mail von der deutschen Botschaft in Amman – vor meiner Reise habe ich mich auf der Krisenliste des Auswärtigen Amtes registriert: „Liebe Landsleute, der Iran hat den befürchteten Angriff auf Israel gestartet.“ Es gibt einen zweiten Knall, wieder wie ein Donnerschlag. Später erfahren wir, dass einige der Raketen über Amman abgefangen und in der Luft zum Explodieren gebracht wurden. Jordanien traf der Angriff unvorbereitet, es waren sogar noch Passagierflugzeuge in der Luft. Die abgeschossenen Raketen fallen über Amman vom Himmel. Sie sind etwa 16 Meter lang und wiegen 19 Kilo.[1] Auch ohne Explosion können sie beim Einschlagen für Zerstörung sorgen. Später sehe ich Videos von den riesigen Geschossen, wie sie brennend in den Straßen von Amman liegen. Dass niemand dabei verletzt wurde, grenzt an ein Wunder.
Nach dem ersten Luftangriff sehe ich jeden Tag nach, ob es Entwicklungen im Iran gibt und versuche, wachsam zu sein. Eines Abends verrücken meine Nachbarn über mir ihre Möbel. Ich zucke zusammen. Die lauten, dumpfen Schläge klingen wie die Raketen, die ich zu Beginn meines Praktikums noch mit Donner verwechselt habe. An einem anderen Tag riecht es verbrannt, als ich das Haus verlasse, und mein erster Blick geht zum Himmel, um zu sehen, ob es wieder Explosionen über Amman gab. Ende Oktober werden es immer mehr Meldungen: Israel bewegt seine Kampfflugzeuge, Insider geben bekannt „Israel is on the brink of launching an attack on Iran“. Am 26. Oktober ist es soweit: Ich bin ich gerade mit Freunden in einem abgelegenen Hostel in den Bergen, als ich morgens lese: „Nach Angaben des israelischen Militärs haben in der Nacht dutzende Kampfflugzeuge Anlagen zur Herstellung von Raketen im rund 1.500 Kilometer entfernten Iran angegriffen.“ Ob die Flugzeuge über Jordanien geflogen sind, ist unklar. Das Königshaus streitet das ab, und betont, niemand dürfe seinen Luftraum verletzen.
Dennoch entsteht aus der stetig drohenden Gefahr vor Raketen – ob aus Iran, Israel oder von einer der vielen Terrormilizen, die kräftig mitfeuern – ein Flugchaos über der gesamten Region. Wer aus dem Westen nach Jordanien will, kann nur noch über Ägypten fliegen – Israel, Libanon und Syrien sind keine Option. Alle Nachtflüge werden auf den Tag verschoben, weil hier die Wahrscheinlichkeit für Angriffe geringer ist.
Der Krieg im Kopf
Doch der Krieg findet schon lange nicht mehr nur am Horizont oder über unseren Köpfen statt – auch die täglichen Gedanken kreisen immer wieder darum. Für mein Praktikum soll ich jeden Tag einen Bericht über die neuesten Ereignisse in Jordanien, Syrien und Libanon schreiben und scanne dafür mehrmals täglich alle gängigen News-Seiten. Ich sehe Bilder von eingestürzten Häusern, toten Kindern, weinenden Müttern, misshandelten Geiseln und brennenden Menschen. Beim Mittagessen, bei den Autofahrten, bei den Gesprächen mit den Projektpartnern – über alle bahnt sich der Krieg seinen Weg in die Unterhaltung, die dann immer wieder in einem gedankenverlorenen Schweigen endet.
Der Krieg vor Ort
Als ich auf der Suche nach einer Arabischlehrerin bin, die mir ein paar Sätze für den Alltag in Jordanien beibringt, lerne ich Nada kennen. Eine ehemalige Schülerin von ihr antwortet auf mein Hilfegesuch und erzählt mir, dass Nada im Gazastreifen lebe und dringend Arbeit suche. Sie schickt mir ihr Instagram-Profil, um sie zu kontaktieren. In ihrem Profil sehe ich Bilder und Videos von ihr, ihrem Mann und ihren drei Kindern vor einem Jahr auf dem Weg von ihrer Heimat, Gaza Stadt, in eine Flüchtlingscamp in Deir Al-Baha im Süden. Von Gaskochern und Zelten, auf deren Planen „UNICEF“ steht, von dreckigem Wasser aus einem Schlauch, in dem sie ihre Kleider wäscht. Sie schildert Angriffe, die nur wenige Meter von ihr entfernt stattfanden. Sie erzählt von ihrem dreijährigen Sohn, Jad, der Asthma hat und seinen Inhalator bei der Flucht zurücklassen musste. Ich schreibe ihr eine Nachricht, und wir vereinbaren Unterrichtsstunden. Nada wirkt trotz ihrer Umstände aufgeweckt, wenn wir telefonieren. Sie hat Sätze vorbereitet, die sie mir beibringt. Manchmal höre ich ihre Kinder im Hintergrund. „They are tired“, erklärt sie mir. „We all are. We haven’t slept properly for one year.” Manchmal wird unser Telefonat abrupt beendet und ich höre stundenlang nichts von Nada, weil die Internetverbindung immer wieder abbricht. Wenn sie sich dann endlich wieder bei mir meldet, atme ich erleichtert auf – zum Glück ist ihr nichts passiert.
Wie ich, fühlt sich auch die jordanische Bevölkerung machtlos gegenüber den Bildern, die sie aus Gaza, Libanon und Syrien erreichen. Das Königreich hat viele Geflüchtete aus den palästinensischen Gebieten und Syrien aufgenommen, auch einige Libanesen leben hier. Viele meiner Taxifahrer und Kellner, meine Mitbewohnerin und einige Freunde, die ich hier kennenlerne, haben palästinensische Wurzeln. Sie sind wütend. Wütend auf Israel, den Krieg – und Deutschland, das sich immer wieder uneingeschränkt an die Seite Israels stellte. Für die Menschen hier ist das unverständlich. Seit dem 8. Oktober 2023, dem Tag, an dem Israel seine Invasion in Gaza begann, betrifft das teilweise auch die Arbeit der HSS. Als deutsche politische Stiftung bekommt auch sie die Kritik ab, die die Bundesregierung hier erfährt. Eine Partnerorganisation beendete mit sofortiger Wirkung die Zusammenarbeit, geplante Projekte wurden abgesagt. Auch die Leiterin der Partnerorganisation „United for Human Rights – Arab World Centre for Democratic Development”, Dr. Amira Mostafa, ist bei ihren Seminaren über Menschenrechte der Kritik von den Teilnehmenden ausgesetzt. „Warum wollen uns die Deutschen etwas über Menschenrechte erzählen, wenn sie den Krieg unterstützten?“ fragen sie.
Auch nach der israelischen Offensive im Libanon musste die HSS hier ihre Projekte ändern. Bisher wurde hier viel mit Umweltorganisationen zusammengearbeitet, die sich für die Wiederaufforstung im Libanon und nachhaltige Landwirtschaft einsetzen. Durch die Angriffe Israels, die auf Mitglieder der Terror-Miliz Hisbollah abzielen, werden auch die Wälder und Agrarflächen massiv geschädigt. Doch mit über einer Millionen Menschen, die durch die Angriffe auf den Südlibanon und Beirut vertrieben wurden, hat das erstmal keine Priorität mehr. Die Partnerorganisationen haben innerhalb weniger Tage ihr Engagement vom Umweltschutz auf humanitäre Hilfe umgestellt. Es werden Schlafplätze vermittelt, Matratzen organisiert, Mahlzeiten ausgegeben, Hygieneartikel und Medikamente verteilt. Sie haben Spendenkonten und Abgabestellen für Sachspenden eingerichtet. In Schulen und Sammelstellen für Geflüchtete veranstalten sie Spieleabende, um Kinder zu unterhalten und ihnen Freude zu bereiten. In nur kurzer Zeit haben sie ihre gesamte Arbeit darauf ausgerichtet, anderen zu helfen.
Die HSS unterstützt dabei, wo sie kann – doch Geldtransfers und Hilfsleistungen in den Libanon, wo obendrein eine massive Wirtschaftskrise herrscht, sind schwer. Zudem muss die Stiftung als Zuwendungsempfänger von Geldern des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Rahmen ihrer Auflagen bleiben. Diese beschränken sich auf die Erarbeitung von „Lösungsansätzen für Entwicklungsfragen“ und den „Aufbau funktionierender staatlicher und demokratischer Strukturen.“[2] Humanitäre Hilfe gehört da nicht dazu, dafür sind andere Organisationen zuständig. Dennoch steht die Stiftung in engem Kontakt mit ihren Partnern und versucht ihre Angebote zu ermöglichen. Mit einem Projekt im Rahmen der Lebensmittelsicherheit in Libanon werden Teilnehmerinnen in der Zubereitung und Verteilung von Mahlzeiten für Großbetriebe geschult – und können damit einige Hilfsbedürftige versorgen.
Ein Krieg, der hoffentlich Geschichte wird
Trotz der heftigen Luftangriffe auf Syrien und des Kriegs in Libanon kann die HSS eine Syrerin und eine Libanesin als Teil der HSS-MENA-Delegation auf die Weltklimakonferenz schicken. Oft geht es auch darum, den Menschen aus diesen Regionen, die mit so vielen Herausforderungen zu kämpfen haben, Sichtbarkeit zu verschaffen, ihnen Chancen zu bieten und ihren Werdegang zu unterstützen. Für ein Klimaschutzseminar der HSS reisen einige junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Syrien an. Noch während sie in Jordanien an dem Seminar teilnehmen, wird in Syrien völlig unerwartet die seit 54 Jahren bestehende, brutale Diktatur gestürzt. Die Assad-Familie, die so viele Menschen verschleppen, foltern und töten ließ, die das eigene Volk an der Armutsgrenze leiden ließ, selbst Paläste bewohnte und ganze Fuhrparks an Luxusautos betrieb, ist Geschichte. Die Teilnehmenden, die die Unterdrückung durch das Régime in den letzten Jahren ausgehalten haben, verfolgen die Neuigkeiten aus einem Seminarzentrum im Osten Jordaniens mit Freude – aber auch Angst. Niemand weiß, wie es jetzt mit dem vorerst befreiten Syrien weitergeht. Sie gehören religiösen Minderheiten an. Die Rebellen, die Damaskus nun einnehmen und für Recht und Ordnung sorgen wollen, haben diese Minderheiten in der Vergangenheit verfolgt.
Im Zentrum eines Vulkans
Ich war nur zwei Monate in Jordanien und konnte am eigenen Leib erleben, wie Jordanien den Wogen der regionalen Konflikte ausgesetzt ist. In meiner Zeit im Königreich habe ich mit erschöpften Palästinensern gesprochen, mich mit meinen Kollegen um Lebensmittel für Vertriebene im Libanon bemüht und Umbrüche in Syrien verfolgt. Ich habe Syrien, Libanon, Palästina und Israel am Horizont gesehen. Es sind Raketen und Kampfflugzeuge über meinen Kopf geflogen, mal von Ost nach West, mal von West nach Ost. Ich habe von Hilfslieferungen, Gipfeltreffen und Friedensverträgen gelesen, habe aufgeatmet und konnte dennoch nachts nicht schlafen. Jetzt bin ich wieder zuhause in Deutschland, weit weg und doch in Gedanken immer noch dort. Die Region steuert weiterhin unaufhörlich auf eine ungewisse, doch mit Sicherheit bewegte Zukunft zu. Der Taxifahrer, der mich zum Flughafen fuhr, als ich das Land nach fast drei Monaten verließ, sagte „We are in the middle of a volcano that is always about to erupt.“
[1] https://missilethreat.csis.org/missile/emad/
[2] Bundeshaushalt: Bundeshaushaltsplan 2024, Einzelplan 23, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Auf: Bundeshaushalt.de (URL: https://www.bundeshaushalt.de/static/daten/2024/soll/epl23.pdf)