Praktikum bei der HSS in Argentinien
„Gute Luft“ ist teuer
Ich stehe im Supermarkt und will mir eine Zahnpasta kaufen – 5500 argentinische Peso, das sind etwa fünf Euro. Ich falle vom Glauben ab. Doch das ist hier inzwischen leider normal. Die Verbraucherpreise sind im Großraum Buenos Aires von Dezember 2023 bis August 2024 um 97 Prozent gestiegen, und die Mieten haben um 153 Prozent angezogen. Die Hyperinflation, die das Land plagt, hat dazu geführt, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt.
Argentinien, das achtgrößte Land der Welt, beeindruckt nicht nur durch seine Gletscher in Patagonien, die Iguazú-Wasserfälle (die größten Wasserfälle der Welt) und die Anden, sondern auch durch eine faszinierende kulturelle Vielfalt. Das Land wurde stark durch europäische Einwanderer geprägt – von 1870 bis 1930 kamen etwa sechs Millionen Europäer nach Argentinien, hauptsächlich aus Italien, Spanien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Heute kommen viele Migranten vor allem aus anderen lateinamerikanischen Ländern. Alle zusammen machen das Land zu dem, was es ist: ein buntes, vielfältiges und modernes Land.
Ein harter Besen kehrt durchs Land
Seit Javier Milei am 19. November 2023 zum neuen Präsidenten gewählt wurde, hat sich die politische Landschaft deutlich verändert. Er gewann mit 55,69 Prozent der Stimmen gegen seinen Kontrahenten Sergio Massa und profitierte dabei vor allem von der Verzweiflung und Wut der Menschen, die sich sehnlichst eine Veränderung und vor allem eine Verbesserung ihrer Lebensumstände wünschten.
Das Land war jedoch schon lange vor Mileis Amtsantritt in der Krise. Die Inflation betrug im August 2024 im Vergleich zum Vorjahresmonat 236,7 Prozent – eine der höchsten Raten weltweit.
Mileis berühmte Aussage „No hay plata“ (Es gibt kein Geld) beschreibt die finanzielle Lage des Staates treffend. Milei, der sich als Anarcho-Kapitalist bezeichnet, verfolgt das Ziel eines stark reduzierten Staates. Der „Kettensägen-Präsident“ hat seit seiner Amtsübernahme die Anzahl der Ministerien drastisch verkleinert. Budgetkürzungen betreffen unter anderem die Universitäten, den Gesundheitssektor und den öffentlichen Nahverkehr. Viele Züge fahren nicht mehr, und Krankenhäuser haben oft nicht die notwendigen Medikamente oder werden geschlossen. Auch außenpolitisch hat sich einiges geändert: Milei entschied sich gegen eine Teilnahme an den BRICS-Staaten, orientiert sich jedoch, obwohl anders angekündigt, zuletzt stärker an China, um Investitionen in argentinische Rohstoffe wie Lithium und Kupfer zu fördern. Auf der 79. UN-Generalversammlung kündigte die (inzwischen ehemalige) Außenministerin Diana Mondino an, dass Argentinien sich nicht mehr zur Agenda 2030 bekennen wird.
Obwohl die Inflation weiterhin extrem hoch ist, haben Mileis Sparmaßnahmen dazu geführt, dass sie allmählich sinkt. Die Frage bleibt jedoch, zu welchem Preis. Besonders die „untere“ Mittelschicht und die ärmere Bevölkerung leiden stark unter den Einschnitten. Trotz dieser Belastungen ist die Stimmung im Land bisher nicht gekippt. Milei hatte bereits bei seinem Amtsantritt angekündigt, dass das erste Jahr sehr schwierig werden würde, und diese Prognose hat sich bewahrheitet. Viele Menschen waren darauf eingestellt. Nun bleibt abzuwarten, wie sich das kommende Jahr entwickelt. Sollte kein deutlicher positiver Wandel eintreten, könnte Milei seine Unterstützung verlieren.
Argentinien ist einzigartig, und auch mich fesselt dieses Land – und vor allem diese einnehmende Stadt Buenos Aires, das Paris Südamerikas. Hier darf ich ein zweimonatiges Praktikum im Auslandsbüro der Hanns-Seidel-Stiftung absolvieren, lerne die Arbeit der Stiftung kennen, bekomme ein Gefühl für die Verflechtungen von Wirtschaft und Politik und darf vor allem das Leben hier, die Menschen und die Kultur kennenlernen.
Passau – Mailand – Buenos Aires
Nachdem ich meinen Bachelor in Passau in Journalismus und Politik gemacht habe, fing ich vergangenes Jahr (2023) meinen Master in Global Politics und Soziologie in Mailand an. Im Studium beschäftigen wir uns nicht nur mit internationalen Beziehungen, sondern auch mit Themen wie Globalisierung und kolonialgeschichtlichen Einflüssen. Diese spielen auch in Lateinamerika eine bedeutende Rolle, was mein Interesse an der Region geweckt hat. Schnell war mir klar, dass ich ein Praktikum in Südamerika machen wollte, um vor Ort zu erleben, wie dort Politik gestaltet wird und wie sich internationale Einflüsse bemerkbar machen. Meine Wahl fiel auf Argentinien, da es mich gleichermaßen fasziniert und erschüttert, wie ein einst prosperierendes Land in solch tiefe Krisen geraten konnte. Da meine wirtschaftlichen Kenntnisse ausbaufähig sind, ist es ein Glücksfall, dass Klaus Georg Binder, der das Büro hier leitet, Ökonom ist. Er erklärt mir die wirtschaftlichen Zusammenhänge und globalen Auswirkungen. Wir setzen uns täglich zusammen, um die aktuellen Entwicklungen im Land zu analysieren und zu diskutieren. Mit einem Präsidenten wie Javier Milei wird es jedenfalls nie langweilig.
Die Arbeit in der Stiftung ist sehr vielfältig, und ich habe die Möglichkeit, neben den alltäglichen Aufgaben wie dem Verfassen wöchentlicher Berichte, der Erstellung von Social-Media-Inhalten oder Briefings auch an zahlreichen Veranstaltungen, zum Beispiel in der deutschen Botschaft, teilzunehmen. Besonders spannend war für mich der Besuch einer Delegation der Unión de Partidos Latinoamericanos (UPLA). Dabei konnte ich zwei Tage lang an den Konferenzen teilnehmen und Einblicke in die Abläufe und Organisation der Betreuung einer solchen Delegation gewinnen. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen Themen wie Migration, Populismus und Konservatismus, insbesondere im Kontext Lateinamerikas und Europas.
Mittwochs kauft man nicht ein!
Nicht nur die Politik, sondern das ganze Land ist abenteuerlich. Das begann schon mit der Anreise: Nach 30 Stunden, die nicht immer reibungslos verliefen, betrat ich zum ersten Mal lateinamerikanischen Boden und verliebte mich sofort in diese farbenfrohe Welt. Die größte Herausforderung für mich ist das Spanisch. Ich dachte, in dieser Metropole würde jeder Englisch sprechen, aber das war ein Irrtum. Auch wenn dies zu Missverständnissen führt, schaffe ich es oft, mich mit Händen und Füßen verständlich zu machen.
In Buenos Aires braucht man Geduld – so etwa beim Bezahlen mit Karte, da man stets nach einer Identifikationsnummer gefragt wird, die die Länge der deutschen Nummer übersteigt, was zu endlosen Diskussionen mit dem Kassenpersonal führt, am Ende aber doch immer klappt. Um Nervenzusammenbrüche zu vermeiden, sollte man auf jeden Fall mittwochs nicht einkaufen gehen, denn da gibt es Rabattaktionen für Rentnerinnen und Rentner, und ich habe schon einmal eine geschlagene Stunde in meiner Mittagspause an der Kasse verbracht. Meine Arbeitskollegen lachten danach sehr und meinten, das wüsste doch jeder – naja, ich lerne jeden Tag dazu.
Auch Busfahren ist abenteuerlich. Die Busse sind schnell, und die Ampeln scheinen eher Orientierungshilfen zu sein. Eine Regel, an die sich jeder hält, ist die Schlange an der Bushaltestelle. Alle reihen sich hier artig ein, und wer das nicht tut, erntet böse Blicke und Worte, denn die sonst tief entspannten Argentinier verstehen in dieser Hinsicht gar keinen Spaß.
Wenn man sich erst einmal an den Trubel gewöhnt hat, fängt man an, das System der Stadt zu verstehen. Straßen sind hier, wie in New York, schachbrettartig aufgebaut, und es wird nicht in Gehminuten gezählt, sondern in Blocks. Unter der Woche sind die Straßen voller Menschen, die ihren Geschäften nachgehen, in Cafés sitzen, Empanadas auf riesigen Tabletts anbieten oder Staubwedel aus Straußenfedern verkaufen. Keiner scheint sich jedoch bei dem Tumult aus der Ruhe bringen zu lassen, und das bei 16 Millionen Einwohnern in der Metropolregion. Argentinien hat lediglich rund 47 Millionen Einwohnern – fast ein Drittel der Bevölkerung lebt also in der Großraum Buenos Aires.
Mate trinken, Asado machen – die Lässigkeit hat Struktur
Am Wochenende ist es in Geschäftsvierteln wie Recoleta (das Büro der Hanns-Seidel-Stiftung befindet sich hier) ruhiger. Die Menschen gehen in die vielen Parks, trinken Mate oder machen Asado. Asado – so heißt hier das Grillen, bei dem alle zusammenkommen, egal ob Freunde, Familie oder gerade erst im Park kennengelernte Fremde. Die Gastfreundschaft ist riesig, ebenso wie die Mengen an Fleisch, die gegrillt werden.
Was ich direkt an meinem ersten Tag in meiner WG gelernt habe: Lehne nie ab, wenn dich jemand fragt, ob ihr euch einen Mate teilen wollt. Hier trinkt jeder aus einem Becher, und wenn man sich einen Mate teilt, heißt das automatisch, man ist von nun an befreundet.
Egal wo man hinschaut, sind Argentinier, die einen Mate-Becher in der einen und eine Thermoskanne in der anderen Hand tragen, und man findet wohl keinen Park und keine Bank, wo nicht Mate getrunken wird. Mein französischer Mitbewohner war davon so begeistert, dass er sich direkt einen Mate-Becher tätowieren ließ. Für mich am schönsten ist, dass alles so gesellig ist: Es wird geteilt, gelacht und zusammen gesessen, und vor allem ist jeder immer willkommen. Das Leben findet hier in Cafés, Restaurants und Bars statt, von denen es vor allem in Soho, dem hippen Viertel von Palermo, in dem ich wohne, unzählige gibt. Wie sich die Menschen das leisten können, weiß ich ehrlich gesagt nicht, denn die Preise schockieren mich jeden Tag aufs Neue. Kosmetikprodukte sind unbezahlbar, und Essen gehen ist mindestens so teuer wie in München.
Oft fühle ich mich in einer verkehrten Welt, denn neben den Prachtbauten aus der „Belle Époque“ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als das Land durch seinen Agrarhandel nur so boomte, stehen die Villas (ausgesprochen „Vischa“). Villas sind die Favelas Argentiniens, und in Retiro, dem Viertel, das unmittelbar an Recoleta angrenzt, gibt es die „Villa 31“, die wohl „berühmteste“ informelle Siedlung in der Stadt. Arm neben Reich, Armenviertel neben Reichenvierteln, neu und alt – die Stadt besteht aus endlosen Gegensätzen.
Am Wochenende weht der Geist von Maradona
Meine Wochenenden sind vollgepackt mit Aktivitäten. Von Salsa-Kurs (Tango ist mir zu schwierig) über Acro-Yoga oder Besuche im Teatro Colón, eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt, in dem schon Größen wie Strauss und Bernstein dirigiert haben. Ich war in einem Konzert des Philharmonie Orchesters von Buenos Aires und war nicht nur von der Musik, sondern auch von den historischen Wänden völlig verzaubert. Meine Samstage verbringe ich am liebsten auf den Ferias, den Wochenendmärkten, bei denen allerlei Handgemachtes, Essen und Souvenirs angeboten werden. Von dort aus lasse ich mich treiben und entdecke jedes Mal neue Viertel, die mich durch ihre Einzigartigkeit begeistern. In manchen Vierteln sollte man aber vor allem abends aufpassen, so auch in La Boca. Das Viertel ist trotz seines schlechten Rufs aber auf jeden Fall einen Besuch wert, und wenn die La Boca Juniors in ihrem weltberühmten Stadion spielen, in dem einst Maradona spielte, bebt die ganze Stadt.
Wochenendtrips sind in Argentinien populär. Für mich ging es bereits nach Mendoza, eines der bekanntesten Weinbaugebiete der Welt. Dort taucht man in den wilden Süden ein und genießt – neben Weinproben, Pferdeausritten und Asado – die Ruhe fernab der Großstadt. Auf meiner Agenda stehen noch die Iguazú-Wasserfälle und ein Tagesausflug mit der Fähre nach Uruguay, bevor ich dann schon wieder in Richtung Deutschland beziehungsweise Italien aufbreche, wo ab Januar mein Trimester in Mailand beginnt. Die Zeit ist für mich beruflich wie persönlich sehr bereichernd, und ich lerne sehr viel über das Land, seine Geschichte und seine Menschen.
Eins steht auf jeden Fall jetzt schon fest: Es wird nicht mein letzter Besuch in Argentinien gewesen sein.
Die HSS in Argentinien
Argentinien steht vor gewaltigen Herausforderungen, und die Hanns-Seidel-Stiftung unterstützt das Land bei der Förderung von Demokratie und Stabilität. Seit 2019 wird das Büro von Prof. Dr. Klaus Georg Binder geleitet. Die Stiftung konzentriert sich hier auf drei Projektziele. Dies ist zum einen die Förderung und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des argentinischen Nationalkongresses sowie ausgewählter Provinzparlamente und Stadt- und Gemeinderäte. Dies wird unter anderem durch „Best Practices“ im Sinne des Austausches unter Parlamentariern und Parlamentsverwaltern vorangetrieben. Zum anderen steht die Verbesserung der Handlungsweisen der Institutionen der inneren Sicherheit auf der Agenda, was durch die Aus- und Fortbildung von Polizeikräften geschieht. Und last but not least die Förderung der politischen Partizipation von Nachwuchsführungskräften aus Politik und Wirtschaft. Hierbei vergibt die Hanns-Seidel-Stiftung auch Stipendien an herausragende Studierende, die im öffentlichen Dienst tätig sind. Es werden auch Delegationsreisen organisiert und betreut.