Didaktik der Geschichte und Public History: Philipp Abele und die Bartholomäusnacht
Das Feuer darf nicht ausgehen!
Philipp ist Doktorand in Didaktik der Geschichte und Public History an der Ludwig-Maximilians-Universität München und erzählt leidenschaftlich gerne. Zum Glück auch über seine Doktorarbeit. In unserem Interview sprechen wir über seine Forschung zur Bartholomäusnacht und darüber, warum Ridley Scott’s Historienfilm Napoleon sich besser für Geschichtsvermittlung eignet als viele akademische Publikationen.
Stell dir vor, wir träfen uns auf Kloster Banz beim Mittagessen im Rahmen eines Seminars. Was würdest du über dich erzählen?
Hi Jana! Ich bin Philipp. 30 Jahre alt. Und seit 2020 zum zweiten Mal bei der HSS, jetzt als Promotionsstipendiat.
Philipp, wir wollen uns über deine Dissertation unterhalten. Du bist Doktorand in Geschichte – wie kommt man dazu? Wie sieht dein akademischer Werdegang aus?
Klar! Ich habe erst Politik an der Hochschule für Politik studiert. In einer ganz alten Form: auf Diplom und noch mit stempelbaren Studentenausweisen – der damalige Rektor hatte für die Bologna-Reformen nicht viel übrig. Dann habe ich auf halber Strecke dieses Erststudiums noch Geschichte an der LMU mitgenommen – meine heimliche Leidenschaft seit vielen Jahren. Die trug mich bis zur Doktorarbeit…
… zu der wir gleich ausführlich kommen. Du meintest, du bist nun zum zweiten Mal Stipendiat. Wie fing dein Weg in der HSS an?
Ich war erst länger in der journalistischen Nachwuchsschmiede der HSS (JFS) ab April 2014. Dort also, wo man viel ausprobiert, Texte, Radio- und Videobeiträge in kurzer Zeit erstellt und sie vor anderen Stipendiatinnen und Stipendiaten am Ende in fairer und schonungsloser Analyse zur Diskussion stellt. Eine gute Schule, in der sich Fremd- und Eigenwahrnehmung schnell angleichen. Es gab dort auch immer wunderbare und motivierte Medientrainer. Mit einer zeitlichen Unterbrechung wurde ich dann im Sommer 2020 Promotionsstipendiat der Stiftung.
Wann stand für dich fest, dass du promovieren möchtest? Wie fiel die Entscheidung für deinen Doktorvater oder München als Standort?
Man stellt sich das amtlicher und schwieriger vor, als es letztlich ist. Es geht erst darum: Passt das überhaupt für mich persönlich? Teilweise werden Promotionen auch nur für den Übergang nach dem Studium begonnen. Ich finde das okay, der Professor muss halt mitspielen. Eigentlich geht es aber schon relativ schnell um eine Entscheidung: Ziehe ich das durch? Zahlen Thema, zu erwerbende Kenntnisse und Methoden auf mein zukünftiges Arbeitsfeld ein? Zumindest aber auf meine Leidenschaft? Bei der Dauer wäre ein Bezug dazu schon gut. Dann geht es darum, wen man kennt und bereits kennengelernt hat. Es nützt nichts, hier um den heißen Brei herumzureden – diese Regel setzt so schnell niemand außer Kraft. Ich empfehle stark, die im Auge zu halten, die einen auch fördern wollen – es gibt immer so etwas wie Sympathie für die eigene Person oder das Thema. Anerkannte Größen des Faches und Lehrstuhlinhaber sind nie verkehrt, denn sie haben gute Verbindungen und auch so etwas wie verfügende Gewalt und Mittel. Sie sollten dennoch gut in der Betreuung sein. Die Promotion ist zwar selbständig, aber sie müssen trotzdem da sein, wenn man sie braucht. Kenne ich eine Wunschperson noch nicht, würde ich mich gut umhören über sie. In all diesen Punkten finden sich meine Anfangsschritte zur Promotion wieder.
Wann hast du den ersten Schritt davon gemacht, wie sieht dein Zeitplan aus?
Die Promotion ist seit Frühjahr 2020 an der LMU registriert, ich bin also fortgeschrittener Doktorand. Meine Oma erinnert mich regelmäßig daran. Ich sage ihr dann: „Oma, Brillanz gibt es nur, wenn etwas gesagt wird – und dazu braucht’s leider zeitlich oft die lange Wegstrecke.“ Dreimal darfst du raten, ob sie dann zufrieden ist. Andererseits: Ich kenne persönlich keine Arbeit in meinem Fach, die in drei Jahren abgegeben wurde. Sobald wie möglich soll die Arbeit stehen, aber es gibt immer Einiges, was das Vorankommen verzögert.
Kommen wir zu deiner Doktorarbeit selbst. Vielleicht einmal einfach begonnen: Wie berichtest du von deinem Projekt auf Partys und Familientreffen?
Ich frage immer: Kennst du Game of Thrones? Denn da kommt in der Folge ‚Red Wedding‘ in der dritten Staffel die Bartholomäusnacht vor, nur als Versatzstück in einen mittelalterlichen Fantasy-Zusammenhang gebracht. Die Leute haben dann sofort Bilder im Kopf.
Da spare ich mir vier Minuten weitere Erklärungen. Von diesem Punkt aus kann man wunderbar weitermachen und justieren.
Und wenn die Leute Game of Thrones nicht kennen?
Dann betrachte ich mein Gegenüber und wäge ab, was er oder sie kennt und weiß. Du musst den Leuten immer möglichst das erzählen, was sie hören wollen und oder schon kennen. Das ist ein bisschen wie Politik. Alles andere vergessen sie. Erfolgsorientierten Menschen sage ich im ersten Satz: „Oh, tut mir leid das so sagen zu müssen, aber das wird eine wirklich wunderbare Arbeit.“ Dann werden sie neugierig. Es gibt wenige, die sofort die Wurzel der Arbeit verstehen wollen. Das ist völlig okay. Natürlich sage ich es denen dann aber.
Du schreibst deine Dissertation über die erzählerischen Verarbeitungen der Bartholomäusnacht in verschiedenen Medien. Wie lautet dein genauer Titel und was beinhaltet dein Promotionsvorhaben?
Ich will mal den ersten von zwei Grundgedanken erzählen. Du kennst sicher einen historischen Spielfilm oder ein historisches Videospiel, warst einmal in einer Oper, die ein historisches Stück zeigte und mit Bühnenbild und den Kostümen historisch aufwartete. Was die Beispiele gemein haben: Überall wird eine Welt entworfen. Das gilt für den ganzen Fantasy-Bereich auch. Hier aber nun: eine vergangene, historische Welt.
So etwa auch wie Fernand Braudel einst eine Welt entworfen hat. Im ersten Band seines wissenschaftlichen Werks ‚Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipp II.‘ führt er mit folgenden Worten ein:
„In diesem Buch navigieren die Schiffe; die Wellen wiederholen deren Lieder; die Winzer kommen von den Hügeln der Cinque Terre herunter an der genuesischen Küste; Oliven werden gepflückt in der Provence und in Griechenland…“
Was macht Braudel da? Er beschreibt eine Welt, in die man unzählige Erzählungen einbauen könnte, wenn man denn will. Also konkrete Figuren und einen Handlungsstrang, der eine möglichst fesselnde Geschichte erzählt – vor eben dem Hintergrund dieses Braudelschen Gemäldes. Ohne es zu beabsichtigen, wurde Braudel hier in der Kreation einer erzählerischen Welt als ‚World-Builder‘ aktiv. Wenn der Titel meiner Arbeit ‚Historische Storywelten‘ lautet, dann zielt die ‚Historische Welt‘ im Titel genau auf dieses ‚World-Building‘ ab.
Für den Begriff bzw. das Konzept der ‚Story‘ wage ich mich für den zweiten Grundgedanken etwas vor. Ich sage: Erfolgreiche historische Stoffe da draußen sind sehr begrenzt – und begründbar ist ihr Erfolg mit dem Rätsel, das sie in sich tragen. Damit bleiben sie für jede Zeit anpass- und veränderbar. Das Beispiel für diese Gedanken, woran ich das alles festmache, ist die Bartholomäusnacht. Varianten aus historischen Romanen, Spielfilmen und Geschichts-Comics (Bande dessinée) schaue ich mir an. Die historischen Fiktionen zu dieser Bluthochzeit machen beispielhaft konkret, was ich meine. Am Ende kommt so der Titel zustande:
Historische Storywelten. Fiktionen der Bartholomäusnacht.
Wie bist du auf dieses Dissertationsthema gekommen?
Naja, das war wirklich ein Prozess. Forschung: Lesen. Thesenbildung. Lesen. Verwerfen. Lesen. Wieder prüfen usw. Bis heute erinnert mich mein Literaturverwaltungsprogramm an den Beginn 2020: ‚Storytelling über die Frühe Neuzeit‘ steht da. Konkreter war es nicht. Konkret war nur, was mich besonders interessiert hat. Mir war klar: Was heutige Kreative aus Geschichte machen – das ist spannend, schwierig – und Kunst. Dann pirscht man in diese Richtung. Nach einem Jahr wurde es immer konkreter.
Was fasziniert dich besonders an deiner Forschung?
So gut wie alles. Aber vor allem, einen Beitrag zur Lücke der Lebenswelt heutiger Menschen zu schließen. Wer liest da draußen Fachwissenschaft? Niemand. Die Leute schauen Spielfilme, lesen historische Romane und gehen in Ausstellungen. Das ist in der Praxis Geschichte für die Menschen. Was aber heißt das, Geschichte und Gegenwart zusammenzubringen? Ich will einmal Robert McKee zitieren, der zum Historienfilm sagt:
„Die Schatztruhe der Geschichte gibt es nur mit dieser Warnung: Was Vergangenheit ist, muss Gegenwart sein. (…) Daher ist die beste Nutzung der Geschichte […] Anachronismus – die Vergangenheit als Brennglas zu nutzen, durch das man die Gegenwart zeigt.“
In der Wissenschaft haben das bis heute nicht viele verstanden.
Geschichte kann nicht nur im Elfenbeinturm bestehen. Es geht um Sinn und Identität für die Menschen. Die breite Gesellschaft trägt mit ihrer Finanzierung die Wissenschaft, da gibt es ein Anrecht darauf, dafür etwas zurückzubekommen.
Kürzlich lief Ridley Scott’s Napoleon in den Kinos. Ein wunderbares Beispiel für die begrenzten Vorstellungswelten von Stick-to-the-fact-Historikern. Wenn ich mich nur an Fakten halte, dann kommt halt nichts Gutes dabei heraus. Die 500 Napoleon-Biographen rund um den Globus wird dieser Film nicht glücklich machen. Aber man zielt auch auf die 500 Millionen Menschen, die bereit sind, für Geschichte im Kino ein Ticket zu lösen. Und zu glauben, dass die Leute alles Gesehene für bare Münze nehmen, ist ohnehin ein Ammenmärchen. Viele fangen gerade nach dem Film an zu recherchieren – die Faktenfinder zur Erzählung boomen bei derartigen Großwerken. Mich überrascht die Arroganz der Wissenschaft immer wieder. Die Filmproduktionen tragen sich oft oder zumindest in Teilen selbst – die Geschichtswissenschaft aber kann man ohne Vollfinanzierung dicht machen.
Das klingt nach harter Kritik…
Die akademische Geschichtswissenschaft kämpft immer noch mit einem Trauma. Der sogenannte linguistic turn hat ziemlich eingeschlagen. Er führte zu einem starken Erkenntniswandel im Fach. Er sensibilisierte dafür, dass die Geschichtsforschung mit ihrem literarischen Ausdrucksstil in der Präsentation ihrer Ergebnisse notwendigerweise auf Sprache beruht. Einer Sprache jedoch, die nicht mehr einfach als neutrales Medium der Vermittlung verstanden werden kann, sondern selbst bereits in Form und Gebrauch subjektiven Regeln folgt. Wir spüren den Einfluss dieses Denkens bis heute überall und zum Teil auch sehr politisiert, wenn gesagt wird: Sprache verändert das Denken.
Mit Blick auf die Geschichtswissenschaft bedeutete das nun: Alles, was Geschichtsforscher bisher gemacht haben, könne ja wohl nicht richtig sein, denn wie man betrachtet hatte, das war subjektiv gewesen: Sie hätten alle erzählerisch geschrieben wie Romanciers, und ihr Blick hing außerdem von ihrem persönlichen Standort ab. Fortan wählte man einen anderen Weg, um Distanz zu gewinnen. Man entscheidet sich seither oft für die Beobachtung zweiter Ordnung – also die Beobachtung der Beobachter anstelle des Beobachteten. Damit will man den blinden Fleck ausmerzen, der sich ergäbe, wenn man selbst als Forscher die direkte Beobachterperspektive zu einem Gegenstand wählt. Der große Werner Paravicini hat das mit seiner Schrift ‚Die Wahrheit der Historiker‘ kritisiert. Und dabei schon einige Wahrheiten ausgesprochen, die dem Fach einen Spiegel vorhielten. Diese linguistische Wende haben die Arbeiten des Faches im Übrigen einem größeren Publikum nicht gerade nähergebracht. Wissenschaftliche Operationen wurden komplizierter, die Sprache verrenkter.
Meine Arbeit ist nun jedoch sehr durch neue fachliche Entwicklungen bedingt. Public History – also der Umgang mit Geschichte in der Öffentlichkeit – ist im Fach ziemlich cutting edge. Mein Betreuer Michele Barricelli sagte zu Beginn meiner Dissertation: Noch vor zehn Jahren wäre ihre Untersuchung undenkbar gewesen. Ich sehe mich als Kind beider Welten. Denn einen Teil zur Frage, was konkret zur Bartholomäusnacht denn genau war, was passierte, gibt es auch. Auch wenn die Frage der Memoria – was machen die Kreativen aus diesem Stoff – die zentrale bleibt.
Woran arbeitest du derzeit?
An einer informatischen Visualisierung von Romandaten für das Paris des Jahres 1572. An Lizenzerwerben von Filmsequenzen historischer Spielfilme und Bild-Panels aus französischen Comics (Bande Dessinée) zur Bartholomäusnacht. All das kommt in die Doktorarbeit. Die schreibe und veröffentliche ich auf einer akademischen Publikationsplattform. Dort wird alles lesbar, sehbar, klickbar sein.
Welche Hürden und Schwierigkeiten gibt oder gab es für dich im Forschungs- oder Schreibprozess?
Da gibt’s immer einige, ich sag‘ dir zwei. Für mich in den Geisteswissenschaften würde ich vorläufig sagen: Es ist die wissenschaftliche Poetik, die nicht ganz einfach ist. In welche Richtung entwickelt man die Theorie genau? Das heißt: Von welchem Winkel betrachte ich meinen Gegenstand? Mit welcher Kamera, mit welchem Objektiv, Belichtungs- und anderen Einstellungsgrößen gehe ich ran? Jeder weiß ungefähr, wie Historienfilme, historische Romane funktionieren – da muss die Kameraperspektive schon eine besondere sein, damit sich daraus Erkenntnis schlagen lässt.
Ein zentrales Problem, an dem alle knabbern: Motivation. Mit deinem eigenen Projekt bist du ganz allein. Als externer Doktorand ist die Promotion noch einmal härter als mit Anstellung an der Universität und einem täglichen akademischen Umfeld, das einen mitzieht. Auch das muss man sich klar machen, Mitstreiter finden, falls man das braucht.
Was motiviert dich, auf „Durststrecken“ bei der Stange zu bleiben und weiterzumachen?
Eine gute Dissertation ist ein Kunstwerk. Das aber bedeutet: Brillanz ist nur mit Ausdauer und einer starken inneren Flamme durchzuhalten. Das Olympische Feuer brennt für ein paar Wochen Spielzeit, bis Thomas Bach vom IOC abpfeift. Bei der Promotion kann dein inneres Feuer nicht immer nur Stichflammen aussenden – das ist schon klar. Aber ausgehen sollte das Feuer nicht.
Was tust du als Ausgleich zum wissenschaftlichen Schreiben und Arbeiten?
Das war schon einiges. Zunächst: Gute Freunde und Familie sind Gold wert. Sport mache ich im Team schon immer gerne, auch wenn es weniger geworden ist. Ansonsten: Ich habe ehrenamtlich während der Dissertation auch noch einmal neue Felder entdeckt. Und nicht zu vergessen: Ein Jahr lang war ich mit anderen Stipendiaten Sprecher von Docnet. Der Austausch dieses Netzwerks der Doktorandinnen und Doktoranden der HSS war immer ziemlich schön und gut!
Hast du schon Ideen oder Pläne, wie es nach Abschluss der Promotion für dich weitergehen soll?
Meine „Professur zur politischen Geschichte und Geschichte in den Medien“ wurde bislang noch nicht ausgeschrieben. Ich sehe mich daher im politischen Bereich. Da bringe ich die meisten Erfahrungen mit. Ich bin aber für vieles offen. In der Politik wäre ich ein Mann für die zweite Reihe. Der diplomatische Dienst interessiert mich. Ob das klappt, hängt immer von einigen Faktoren ab.
Vielen Dank, Philipp! Auf dass die innere Flamme immer weiter brennt!