Klinische Psychologie und Psychotherapie: Alexander Reineck
Trügerischen Erinnerungen auf der Spur
Was passiert, wenn in der Therapie Erinnerungen an Ereignisse geweckt werden, die in der Realität nie stattgefunden haben? Was zunächst nach dem Plot eines Psychothrillers klingt, ist das Forschungsgebiet von Alexander Reineck. Der Doktorand am Lehrstuhl für Klinische Psychologie & Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München untersucht, wie die Therapiemethode des Imagery Rescripting sich auf das Gedächtnis von TraumapatientInnen auswirkt. Inwieweit seine Forschung nicht nur für Betroffene, sondern auch für die Justiz Relevanz hat und in welchem privaten Bereich ihm sein Wissen um Krisenintervention seit kurzem helfen kann, erfahrt ihr im Interview.
Stell dir vor, wir träfen uns auf Kloster Banz beim Mittagessen im Rahmen eines Seminars. Was würdest du über dich erzählen?
Hallo, ich bin Alex, 29 Jahre alt und komme aus Hochbrück, einem Ortsteil von Garching bei München. Ich bin verheiratet und vor ein paar Monaten auch Vater geworden. Ich promoviere in Psychologie und bin in der Weiterbildung zum Psychotherapeuten. In meiner Freizeit spielt Sport und Musik für mich eine wichtige Rolle. Darüber hinaus bin ich in der Freiwilligen Feuerwehr tätig. Seit Oktober 2022 bin ich Promotionsstipendiat.
Was ist dein akademischer Werdegang?
Nach dem Abitur habe ich über ein Fernstudium Psychologie studiert. Ich habe dann aber bald festgestellt, dass diese Art von Studium nicht zu mir passt, und beschlossen, mich in Innsbruck für den Bachelor Psychologie zu bewerben. Um die Zeit bis zum Aufnahmetest zu überbrücken, habe ich ein Semester Informatik an der LMU studiert. Das war auch mein Plan B, sollte ich keinen Studienplatz in Innsbruck bekommen. Nach einem positiven Bescheid verbrachte ich drei Jahre in Innsbruck und habe meinen Bachelor in Psychologie abgeschlossen. Da ich aber viel Spaß am Informatikstudium hatte, habe ich in Innsbruck nebenbei noch einige Semester Informatik studiert. Für den Master habe ich wieder zurück an die LMU gewechselt. Dort hat es mir dann so gut gefallen, dass ich nach einer kurzen Pause nach dem Masterabschluss auch meine Promotion angeschlossen habe.
Ich habe mich schon immer für das „Wie“ und „Warum“ interessiert und irgendwann gemerkt, dass man sich als Wissenschaftler genau damit auseinandersetzen „darf“.
Alexander Reineck
Wann stand für dich fest, dass du promovieren willst? Wie fiel die Entscheidung für deine Doktormutter oder den Standort?
Das war gegen Ende des Bachelors. Ich habe mich schon immer für das „Wie“ und „Warum“ interessiert und irgendwann gemerkt, dass man sich als Wissenschaftler genau damit auseinandersetzen „darf“. Um diesen Weg zu gehen, brauche ich die Promotion als Eintrittskarte in diesen Beruf. Meine Doktormutter war auch die Betreuerin meiner Masterarbeit. Die Zusammenarbeit hatte so gut geklappt, dass sie mir angeboten hat, mich bei ihr zu melden, sollten sich meine Promotionspläne konkretisieren.
Seit wann promovierst du und welches Abgabedatum sieht dein Zeitplan vor?
Offiziell promoviere ich seit Anfang der Förderung im Oktober 2022, inoffiziell arbeite ich schon seit April 2022 an meinem Thema. Mein Zeitplan sieht vor, dass ich im Oktober 2025 fertig bin. Bis jetzt schaut es gut aus, dass ich diesen Termin auch einhalte.
Du schreibst deine Dissertation über den Einfluss von Imagery Rescripting auf das Gedächtnis von Traumapatienten. Was beinhaltet dein Promotionsvorhaben?
Genau, es geht darum, ob Imagery Rescripting das faktische Gedächtnis verändert.
Imagery Rescripting ist eine traumafokussierte Psychotherapiemethode, die zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entwickelt wurde. Dabei reaktiviert man die traumatische Situation imaginativ und „schreibt“ sie ab einem bestimmten Punkt „um“. Und zwar so, dass der Täter entmachtet wird und die Bedürfnisse des Betroffenen in der damaligen Situation erfüllt werden. Damit ist der Ausgang der Situation also insgesamt auch weniger belastend.
Wie entstand die Idee für dieses Thema?
Aus einer Problematik, mit der sich alle PsychotherapeutInnen auseinandersetzen müssen, wenn sie PatientInnen mit einer PTBS behandeln. Zur Erklärung muss ich geschichtlich ein wenig ausholen.
Bis in die 1990er Jahre, und teilweise bis heute, haben sich einige Psychotherapiemethoden auf die Fahne geschrieben, verdrängte „unzugängliche“ Erinnerungen bewusst machen zu können. Ein verdrängtes Trauma ist dabei oft das Erklärungsmodell für die Entwicklung eines breiten Spektrums an psychischen Störungen. Die Therapie sieht also vor, das Trauma bewusst zu machen und zu bearbeiten, um die heutige Symptomatik zu behandeln. Durch die Methoden wurden jedoch nicht nur echte Erfahrungen wiedererinnert, sondern auch falsche Erinnerungen erzeugt. Das sind die sogenannten „Scheinerinnerungen“, z.B. an nie stattgefundene sexuelle Übergriffe durch den Vater.
Wie kommt es zu diesen Scheinerinnerungen?
Ursächlich dafür sind vor allem suggestive Prozesse in der Therapie, wie z.B. die Annahme und Suche eines Traumas, selbst wenn es dafür keinen Anhaltspunkt gibt. Das hat in der Vergangenheit des Öfteren zu falschen, aber von PatientInnen als wahr angenommenen Aussagen über frühkindliche Gewalterfahrungen geführt. Diese zogen entsprechend auch falsche Verurteilungen nach sich. Solche Irrtümer eröffneten ein breites Forschungsfeld zur Entstehung von Scheinerinnerungen, in dem man zeigte, dass deren Erzeugung durch Suggestion tatsächlich gar nicht so schwierig ist. Seitdem hat die traumafokussierte Psychotherapie eine Sonderstellung inne, wenn es um die Glaubhaftigkeitsbegutachtung von Zeugenaussagen geht.
Jetzt kommen wir zu dem Problem: Bei den heutzutage für PTBS empfohlenen traumafokussierten Psychotherapiemethoden geht es explizit nicht darum, verdeckte Traumata aufzudecken. Im Gegenteil, Betroffene kommen sogar mit unkontrollierbar auftretenden Erinnerungen an ein traumatisches Erlebnis in die Therapie. Dennoch bleibt die Assoziation, Psychotherapie könne zu Scheinerinnerungen führen, hartnäckig bestehen, auch wenn es zu den heutigen Methoden noch keine Forschungsergebnisse gibt, die dies rechtfertigen.
Welche Konsequenzen hat diese ungesicherte Annahme?
Es kann passieren, dass Glaubhaftigkeitsgutachter die Aussage von Betroffenen mit Therapieerfahrung nicht beurteilen können. Denn bisher gibt es keine Kriterien, wie man Scheinerinnerungen von echten Erinnerungen differenzieren könnte. Das wiederum ist für die Betroffenen von Nachteil, vor allem dann, wenn die eigene Aussage das einzige Beweismittel ist. Das ist z.B. bei Sexualdelikten häufig der Fall. In der klinischen Praxis führt das dazu, dass sich Betroffene entscheiden müssen, ob sie mit einer Therapie beginnen möchten und dabei riskieren, dass ihre Aussage an Beweiskraft verliert. Die Alternative ist es, bis zum Ende des Strafverfahrens abzuwarten, was mit einem erheblichen Leidensdruck verbunden ist.
Und genau da ist meine Forschung verortet. Aus einer gedächtnispsychologischen Perspektive heraus würde man einige Aspekte der Methode als potenziell förderlich für die Entstehung von Scheinerinnerungen einschätzen. Es gibt aber kaum Forschung, die sich damit explizit auseinandergesetzt und diese Aspekte systematisch untersucht hat.
Wie berichtest du auf Partys und Familientreffen von deinem Dissertationsprojekt?
Ich untersuche, ob wir mit unserer Traumatherapie falsche Erinnerungen erzeugen oder echte Erinnerungen verfälschen können. Das ist vor allem für Gerichtsverfahren relevant, bei denen es um Situationen geht, die wir in der Therapie besprochen haben.
Ich bin immer wieder überrascht, dass noch kaum jemand die Effekte aktueller Psychotherapiemethoden auf das Gedächtnis untersucht hat.
Alexander Reineck
Wie bist du auf dein Dissertationsthema gekommen?
Ich habe mich seit dem Bachelor sehr für die Krisenintervention interessiert, also die psychische Akuthilfe bei belastenden Ereignissen. Dabei haben mich vor allem peritraumatische Informationsverarbeitungs- und Gedächtnisprozesse interessiert. Meine jetzige Doktormutter fand das ganz spannend, hat mir aber als Alternative noch das Thema „Traumatherapie und Gedächtnis“ vorgeschlagen. Das war thematisch nicht weit weg von meinen Interessen, hat gleichzeitig aber eine viel höhere praktische Relevanz. So habe ich mich dann für diesen Vorschlag entschieden und bin nun der dritte Doktorand, der sich in unserer Arbeitsgruppe mit dem Thema beschäftigt.
Was fasziniert dich besonders an deiner Forschung?
Ich bin immer wieder überrascht, dass noch kaum jemand die Effekte aktueller Psychotherapiemethoden auf das Gedächtnis untersucht hat. Dabei sind sowohl PsychotherapeutInnen als auch JuristInnen und RechtspsychologInnen ständig mit diesem Problem konfrontiert. Dementsprechend hoch scheint das Interesse an den Studien unserer Arbeitsgruppe, und das ist sehr motivierend. Was ich so spannend finde ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die notwendig ist, um praktisch relevante Forschung sowohl für die Psychotherapie als auch für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung durchzuführen.
Wie hat sich dein Thema seit der Festlegung entwickelt, zu welchen Teilen stimmt es noch mit deiner Ausgangsidee überein, was hat sich verändert?
Ich habe meine Studien auf der „False memory“-Literatur aufgebaut, also Studien, die gedächtnispsychologische Mechanismen entdeckt haben, die unabhängig von irgendwelchen Therapiemethoden bei einigen Leuten zu Scheinerinnerungen führen. Diese Mechanismen habe ich auch bei Imagery Rescripting vermutet und entsprechend Gedächtnisverzerrungen erwartet.
Nachdem aber einige Studien unserer Arbeitsgruppe abgeschlossen und teilweise schon veröffentlicht wurden, musste ich die Fragestellungen meiner Studien ein wenig anpassen. Bisher haben wir nämlich in keiner unserer Studien negative Effekte gefunden. Im Gegenteil, ProbandInnen haben sich sogar an mehr richtige Details erinnert. Jetzt beschäftige ich mich unter anderem mit der Frage, wie es zu einer Verbesserung kommen kann; aber gleichzeitig auch mit Risikokonstellationen, wie sich die Therapie vielleicht doch noch negativ auf faktische Erinnerungen auswirken könnte.
Woran arbeitest du derzeit?
Ich arbeite gerade am Paper meiner ersten Studie, deren Daten ich im Juni auch auf dem Deutschen Psychotherapiekongress in Berlin vorstellen möchte. Die Datenerhebung meiner zweiten Studie läuft aktuell noch. Für eine dritte Studie schreibe ich gerade einen Ethikantrag, damit die Datenerhebung im Herbst starten kann.
Welche Hürden und Schwierigkeiten gibt/gab es für dich im Forschungs- oder Schreibprozess?
Ich finde die Rekrutierung von ProbandInnen am anstrengendsten im ganzen Forschungsprozess. Ich werde zum Glück von Studierenden unterstützt, die in meinen Projekten eine Abschlussarbeit schreiben, aber dennoch ist es mühsam und zeitaufwendig. Im Schreibprozess ist für mich die größte Hürde, mit dem Schreiben anzufangen.
Was motiviert dich, bei „Durststrecken“ oder Rückschlagen durchzuhalten und weiterzumachen?
Hauptsächlich unsere Arbeitsgruppe. Wir sind ein Team von drei DoktorandInnen und unserer Doktormutter, in dem wir uns wöchentlich treffen und austauschen. Herausforderungen und Probleme kann ich hier offen ansprechen und sie stoßen immer auf Verständnis und Unterstützung. Aber auch über unsere Gruppe hinaus herrscht an unserem Lehrstuhl und vor allem zwischen den DoktorandInnen ein sehr kooperatives und verständnisvolles Klima.
Was tust du als Ausgleich zum wissenschaftlichen Schreiben und Arbeiten?
Ich bin dieses Jahr Vater geworden, insofern haben sich meine Prioritäten ganz automatisch schon ein wenig verschoben. Dadurch fällt es mir leichter, eine gewisse Work-Life Balance zu bewahren, auch wenn das nicht immer mit Entspannung einhergeht. Die Entspannung versuche ich mir über meinen Sport zu holen, der sich mal mehr, mal weniger gut in den Alltag integrieren lässt. Mein stabilstes Hobby ist derzeit die Feuerwehr, in der die konkrete Arbeit „mit den Händen“ ein schöner Gegenpol zum abstrakten Denken am Schreibtisch ist.
Hast du schon Vorstellungen, wie es nach Abschluss der Promotion für dich weitergehen soll?
Nach der Promotion möchte ich meine Psychotherapieausbildung abschließen. Danach würde ich gerne nach dem „Scientist-practitioner model“ sowohl in der Forschung als auch therapeutisch arbeiten.
Wir wünschen dir für die letzte Phase der Promotion sowie für deine weiteren Pläne alles Gute!