Seilhüpfen um den WM-Titel
Der springende Punkt
Tsch, tsch, tsch. Die Luft wird zerschnitten, mehrmals pro Sekunde. Gegen das peitschenähnliche Knallen klingt das Tap-tip, tap-tip, tap-tip beinahe zärtlich. Ein leises, federndes Landen von Turnschuhsohlen auf Hallenboden. Es ist, als stünde ein Ganzkörper-Heiligenschein um Kathrin.
Auf dem Instagram-Clip, den sie mir geschickt hat, sehe ich sofort: Das hat wenig gemein mit dem Seilspringen, wie man es vom Schulhof kennt. Kathrin Baumgartner, 27 Jahre, hüpft nicht Seil, sie skippt. Und das in einem rasanten Tempo. Single Rope Speed nennt sich die Disziplin, in der die Augsburger HSS-Promotionsstipendiatin einen persönlichen Rekord von 700 Schwüngen in 180 Sekunden aufgestellt hat. In Oslo, Norwegen, im Sommer 2019, als Teilnehmerin bei den Weltmeisterschaften im Seilspringen. Auf den World Jumprope Championships versammelt sich die Ropeskipping-Szene. 1000 Seile aus 26 Nationen werden hier geschwungen, um einen Körper, wie um Kathrins, oder mehrere, als Mannschaftssport. Das nennt sich dann Double Dutch oder Wheel. Sportsprache ist englisch, hat das Ropeskipping seine Wurzeln doch in den Straßen der USA. Von dort aus hat es sich vom zahmen Schulmädchengehüpfe zu einer wettkampforientierten Sportart entwickelt, die Koordination, Ausdauer und akrobatisches Können vereint.
Ein Piepsen, gespannte Ruhe. Kathrin ist konzentriert. Der erste Takt. Ich erkenne Bonnie Tylers Song “Holding out for a hero”. Das Video, das Kathrin bei ihrer Choreographie zeigt, ist etwas verwackelt. Es passt zu ihren rasanten Bewegungen. Das Seil nimmt Bewegung auf, verschwindet unter dem linken Bein, hinter dem Rücken, ein Radschlag, ein hochgeschwungenes rechtes Bein. Freestyle ist die zweite Kategorie, in der Kathrin sich den Kampfrichtern präsentiert. Eine selbst erstellte Choreographie mit festgelegten Elementen. Wenn Speed Pflicht ist, ist das die Kür. „Forty-five“, sagt eine strenge Männerstimme. Er zählt die Sekunden herunter, die für den Zuschauer nur so fliegen. Genau wie das Seil und Kathrins Gliedmaßen.
Doktor- statt Weltmeistertitel
Schon mehrere Jahre hatte Kathrin das Ropeskipping auf Leistungssportniveau betrieben. Dreimal pro Woche Training. Abends, denn tagsüber ist sie im Labor.
Nach ihrem Physikstudium hat Kathrin 2021 an der Universität Augsburg ihre Promotion begonnen, in Biophysik. Mit ihrem Team betreibt sie Grundlagenforschung an der Schnittstelle zur Medizin. „Das ist im Prinzip unser Ziel, dass wir erklären können, warum Ultraschalltherapie funktioniert. Das sind ja auch eine Form von akustischen Wellen, die wir dann im ganz Kleinen nachbilden“, sagt sie.
In ihrer Dissertation untersucht sie, wie Zellen durch einen selbstgebauten Mikrochip, der sie mit Nanobeben beschallt, in Bewegung gebracht werden können. Das kann beispielsweise bei der Beschleunigung von Wundheilung Anwendung finden.
„So ein ganz bekannter ist der TJ, das ist Level 3.“
Höfliches Nicken, Fragezeichen in den Augen. Das kennt Kathrin schon. Wenn sie von ihrer Forschung erzählt, steigen manche innerhalb der ersten Sätze aus. Es geht aber gerade nicht um durch akustische Oberflächenwellen stimuliertes Zellwachstum. Das Fachchinesisch, das Kathrin mir in unserem Gespräch begeistert schildert, stammt aus der Welt des Skippings. Die Vorbilder, die sie nennt, sind keine Koryphäen der Biophysik, sondern junge Athleten. Der Jargon beinhaltet Vokabeln wie AS, Caboose oder der schon erwähnte TJ. Diese komplizierten Sprünge seien nach den Initialen ihrer Erfinder benannt, erklärt Kathrin mir. Sie kommen meist aus den USA. Doch es gibt mittlerweile auch eine veritable deutsche Szene. Auf Instagram folgt Kathrin Skippern wie Mira Wate oder Eric Seeger. Als sie mir die Links zu deren Accounts schickt, staune ich. Einmal über die schnelle Fußarbeit, einmal über die Anzahl von Followern. Mehrere Tausend. Das öffentliche Interesse am Ropeskipping steigt, die Medien sprechen von einer Trendsportart.
Heute wird Ropeskipping immer öfter in Fitnessstudios und Sportvereinen angeboten. Im Turnverein Augsburg 1847 e.V. bereits seit über 16 Jahren. Damals haben die Eltern die kleine Kathrin hingeschickt. Sie sahen Potential in der Sprungkraft ihrer Tochter. „Am Anfang wollte ich gar nicht“, sagt Kathrin und lacht. Das änderte sich allerdings gleich bei ihrer ersten Probestunde. Über die Hälfte ihres Lebens schwingt sie das Seil nun schon. Inzwischen jedoch vorwiegend für andere.
Skippende Stipendiaten
Seit sie ihre Promotion im Bereich der Biophysik sehr in Anspruch nimmt, hat sie sich aus dem Leistungssport zurückgezogen. Als Spartenleiterin ihres Vereins und lizenzierte Trainerin lehrt Kathrin jetzt selbst Jugendliche, mit dem Seil zu turnen. So auch Stipendiaten der Hanns-Seidel-Stiftung im August dieses Jahres bei „Sport für alle“.
Auf Kloster Banz referierte sie über die „Grenzen des Leistungssports“. Ihre eigene Grenze musste sie schmerzhaft spüren, als sie sich nach dem Abitur am Knie verletzte. Auch deshalb liegt es ihr besonders am Herzen, ihren Athleten richtige Bewegungsabläufe und Muskelkräftigung nahezubringen, um Verletzungen vorzubeugen. Nach dem Abendessen animierte sie die Seminarteilnehmer, selbst das Seil zu schwingen. Statt des schwarzen Overalls trug Kathrin jetzt Trainingskleidung. Seile hatte sie natürlich dabei. Tische wurden beiseite geschoben, Jacketts abgelegt, Turnschuhe angezogen. Die Wände des Banzer Seminarraumes erbebten. Tsch, tsch, tsch. Die Stipendiaten stellten an diesem Abend zwar keine Rekorde auf, die Begeisterung für das Skipping sprang aber von Kathrin auf sie über.
Wie es nach ihrer Doktorarbeit weitergeht, weiß Kathrin noch nicht genau. Eins ist aber sicher: Das Seil bleibt ihr. Für ihre nächsten hohen Sprünge.