Eindrücke von einer Reise in die Ukraine

Zwischen Normalität und Brutalität

Veröffentlicht am 25. Juni 2023 von Sophia Maier

Ende Mai, bei leicht grau­em Him­mel, mache ich mich mit einer Exkur­si­on der Uni­ver­si­tät Regens­burg auf die wohl außer­ge­wöhn­lichs­te Rei­se mei­nes Lebens: In die Ukrai­ne – genau­er nach Lviv und Kyiv. Alle Teil­neh­men­den stu­die­ren Poli­tik­wis­sen­schaft bzw. Ost/West Stu­di­en. Wir haben über Krie­ge gelernt und dis­ku­tiert, haben Daten aus­wen­dig gelernt, Haus­ar­bei­ten und Klau­su­ren geschrie­ben. Aber eine Rei­se in einem Land, das gera­de im Krieg ist, ist für jeden von uns eine neue Erfah­rung. Wir haben die Nach­rich­ten zum Krieg in der Ukrai­ne genau ver­folgt und bespro­chen. Aber in dem Land war noch nie­mand von uns. Des­halb stel­le ich mir vie­le Fra­gen: Wie ist das Leben in der Ukrai­ne wäh­rend dem Krieg? Was mach es mit mir, durch ein Land zu rei­sen, das im Krieg ist?

Vor dem Abflug habe ich noch­mal mei­ne Eltern besucht und mei­ne Freun­de getrof­fen – nur zur Sicher­heit. Mit vie­len dis­ku­tie­re ich, ob ich nicht Angst hät­te. Ich gebe zu, dass mir schon ein biss­chen mul­mig ist, bei dem Gedan­ken in Kyiv zu ste­hen. Ande­re fra­gen mich, ob es nicht pie­tät­los sei, ein Land zu berei­sen, das gera­de im Krieg ist. Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich weiß es nicht. Natür­lich habe ich mir auch dar­über Gedan­ken gemacht. Mir ist es wich­tig, den Men­schen vor Ort mit Respekt und Demut zu begeg­nen. Aber ich will auch ler­nen und Erfah­run­gen sam­meln. In mei­ner Bewer­bung für die Exkur­si­on habe ich geschrie­ben, dass ich ein­mal für eine inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on arbei­ten möch­te. Dort sit­zen zu weni­ge Men­schen, die sich die Län­der, mit denen sie arbei­ten, wirk­lich aus nächs­ter Nähe anse­hen. Oft wird über die­se Län­der gespro­chen, aber nicht mit ihnen. Ist es nicht wich­tig, dass Wis­sen­schaft­ler sich vor Ort infor­mie­ren, ins Feld gehen und ver­su­chen ihren Stoff so gut es geht zu ver­ste­hen? Das sagt uns auch Pro­fes­sor Myko­la Rjaptschuk, der bis zum Beginn der Inva­si­on in Kyiv leb­te und uns für unser Vor­be­rei­tungs­se­mi­nar besuch­te: „It is a good expe­ri­ence to obser­ve the coun­try, the peo­p­le. To feel the mood. That can’t be sub­sti­tu­ted by any­thing, not even the best reportage.“

Die Nacht vor unse­re Abrei­se kann ich nicht schla­fen. Als wir zum Flug­ha­fen fah­ren, habe ich immer noch gemisch­te Gefüh­le. Vor­freu­de, Auf­re­gung und auch ein Fun­ken Angst. Wir flie­gen zuerst nach Kra­kau in Polen. Dort tref­fen wir unse­ren Fah­rer, der aus Lviv anreis­te, um uns abzu­ho­len. Roman hat schon lan­ge sein Rei­se­un­ter­neh­men. Er ist 64, des­we­gen muss er nicht in den Krieg, aber Tou­ris­ten kann er kaum noch fah­ren. Des­we­gen freut er sich, dass wir kom­men. Mit ihm kau­fen wir huma­ni­tä­re Hilfs­gü­ter ein, die wir in Kyiv abge­ben wer­den. So fah­ren wir bela­den mit Reis, Nudeln, Mehl und medi­zi­ni­scher Aus­stat­tung los. An der Gren­ze müs­sen wir etwa zwei Stun­den war­ten, bis wir unse­re ers­ten Meter auf ukrai­ni­schem Boden machen. Wirk­lich anders als die Fahrt in Polen ist es nicht. Dör­fer, Fel­der, Stra­ßen. Dass wir gera­de ein Land betre­ten haben, das an sei­ner Ost­gren­ze in einem bru­ta­len Krieg kämp­fen muss, merkt man kaum. Nur Pla­ka­te, die den Weg säu­men und Sol­da­ten abbil­den, um ihnen Mut zuspre­chen, wei­sen dar­auf hin. 

In Lviv sehen wir uns zuerst die Alt­stadt an. Die Son­ne scheint, die Men­schen sit­zen an ein­la­den­den Tischen auf dem Kopf­stein­pflas­ter und trin­ken Ape­rol und Bier. Ihre Gesprä­che, ihr Lachen und das Klir­ren anein­an­der­sto­ßen­der Glä­ser füllt die Gas­sen. Vor der Ein­rei­se spra­chen wir noch über Rake­ten­ein­schlä­ge, Bun­ker und Warn­sys­te­me. Mit einem etwas beklom­me­nen Gefühl, die Gefahr immer im Hin­ter­kopf, bin ich in die Ukrai­ne gefah­ren. Am sel­ben Abend sit­zen wir bei gutem Essen und Cock­tails in einer Bar und ich füh­le mich befreit. Die­ses mul­mi­ge Gefühl ist von mir abge­fal­len. Es fühlt sich an wie vie­le Städ­te: Mün­chen, Wien, Paris, Gar­da – sogar Wup­per­tal, sind die Namen, die fal­len. Aber kaum etwas erin­nert an ein Land im Krieg. Seit unse­rer Ankunft in Lem­berg ist Gefahr kein The­ma mehr für mich.

Soldaten an jeder Ecke

Nur in klei­nen Momen­ten zeigt sich die Wahr­haf­tig­keit des Krie­ges. In einer Sei­ten­gas­se sehe ich ein Graf­fi­ti in gelb und blau, das einen Sol­da­ten und sei­ne Freun­din zeigt. Die Fens­ter der Kir­chen sind durch Sand­sä­cke gegen Erschüt­te­rung abge­deckt, alle Denk­mä­ler durch Gerüs­te gesi­chert. An jeder Ecke erblickt man Sol­da­ten, die sich ihren Weg durch die Men­ge bah­nen, Kir­chen besu­chen oder im Restau­rant sit­zen. Sie gehö­ren so sehr zum Stadt­bild, dass sie kaum noch auffallen.

Am nächs­ten Tag besich­ti­gen wird den Lyt­scha­kiwsk Fried­hof. Hier lie­gen neben berühm­ten Men­schen aus Lem­berg auch die Opfer bei­der Sei­ten des pol­nisch-ukrai­ni­schen Krie­ges. Als wir zurück­kom­men, wol­len wir ein Muse­um besich­ti­gen, aber unser Fah­rer schüt­telt den Kopf und sagt „jetzt der rich­ti­ge Fried­hof“. Nur weni­ge Meter wei­ter hal­ten wir an. Als wir aus­stei­gen, sehen wir unter dem blau­en Him­mel ein Meer aus Fah­nen. Auf einem rie­si­gen Feld neben dem Fried­hof lie­gen die Sol­da­ten, die seit 2022 gefal­len sind. Alle Grä­ber sind bunt bepflanzt. Von den Kreu­zen bli­cken die Gesich­ter der Toten durch Fotos in die son­ni­ge Sze­ne­rie. Vie­le jun­ge Män­ner, man­che sind in mei­nem Alter. Einer ist erst vor weni­gen Wochen gestor­ben. Alle Grä­ber sind mit der ukrai­ni­schen Fah­ne geschmückt, vie­le zie­ren auch die ihrer Divi­sio­nen oder der Unab­hän­gig­keits­be­we­gung. Sie flat­tern im Wind. Vor eini­gen Grä­bern sit­zen Ange­hö­ri­ge bei ihren ver­stor­be­nen Vätern, Söh­nen, Brü­dern, Freun­den. Vie­le wei­nen. Auch eini­ge Män­ner in Armee-Uni­for­men gehen durch die Rei­hen und besu­chen ihre gefal­le­nen Kame­ra­den. Ihr Gesich­ter sind ver­stei­nert, kein Aus­druck lässt sich dar­in lesen. An die­sem son­ni­gen Tag schlägt die Rea­li­tät des Krie­ges mit vol­ler Wucht zu. Ich spü­re, wie Trä­nen in mir auf­stei­gen. Die Rück­fahrt ist still.

Am sel­ben Abend lau­fen wir über eine Art Par­ty­mei­le in einem Park. Hier wer­den Luft­bal­lons ver­kauft, es gibt Live­mu­sik, um die sich Men­schen­men­gen bil­den, die dazu tan­zen und mit­sin­gen. Nur weni­ge Auto­fahrt Minu­ten wei­ter, lie­gen die Toten. Es gibt Spie­le für Kin­der: Luft­bal­lons und fern­ge­steu­er­te Autos, mit denen sie lachend durch die Men­ge fah­ren. Eine wei­te­re Attrak­ti­on am Ran­de des aus­ge­las­se­nen Trei­bens zieht mei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich: Ein Mäd­chen, wahr­schein­lich etwa sechs Jah­re alt, zielt mit einer unech­ten Kalasch­ni­kow, die in ihren Hän­den viel zu groß wirkt, auf eine Ziel­schei­be. Ein Bild von Putins Gesicht klebt dar­auf. Das Mäd­chen trifft sei­ne Schul­ter. Der Mann, der den Stand betreut, zeigt ihr, wie sie rich­tig anvi­siert. Tref­fer. Der nächs­te Schuss lan­det direkt in der Stirn des auf­ge­mal­ten Putin. Das Mäd­chen strahlt. Ihr Vater nimmt sie in den Arm, die Men­ge um sie jubelt. Ein fern­ge­steu­er­ter Spiel­zeug­por­sche, bela­den mit drei klei­nen joh­len­den Mäd­chen, fährt mir fast über die Füße.

Alltag nach dem Grauen

Am nächs­ten Tag geht es nach Kyiv. Das heißt um 5:30 Uhr auf­ste­hen, denn die Fahrt ist lang. Sie führt uns weit ins Inne­re des Lan­des, näher an den Osten, in dem gera­de gekämpft wird, und in die Haupt­stadt, den wich­tigs­ten Punkt einer Inva­si­on. Am Vor­tag wur­den 20 Rake­ten am Him­mel über Kyiv abge­wehrt. Wir haben beob­ach­tet, dass sich die Angrif­fe auf die Haupt­stadt in letz­ter Zeit häuf­ten. Mei­ne Anspan­nung steigt zwar wie­der, aber nach­dem ich Lviv gese­hen haben, ist die Ukrai­ne – vor allem die Gebie­te, in denen gera­de nicht aktiv gekämpft wird – nicht mehr die­ses Unge­wis­se, das es davor war. Ich habe jetzt das Gefühl, es bes­ser ein­schät­zen zu kön­nen, aber ich ver­mu­te auch, dass es anders sein wird als in Lviv.

Wir machen Zwi­schen­stopps sind Irpin und But­scha. Sie sind nur weni­ge Kilo­me­ter von Kyiv ent­fernt und waren daher zu Beginn der Inva­si­on Schlüs­sel­punk­te beim Kampf um die Haupt­stadt. Die rus­si­sche Armee konn­te sie schon in den ers­ten Tagen ein­neh­men, doch die Ukrai­ner konn­ten sie im März zurück­er­obern. Die Kämp­fe waren hart und for­der­ten zahl­rei­che Opfer, dar­un­ter auch Zivi­lis­ten. Ein Mann, den wir nach dem Weg fra­gen, erzählt uns, dass sich in sei­nem Haus rus­si­sche Sol­da­ten ver­bar­ri­ka­diert hat­ten, nach­dem er aus der Stadt geflo­hen war. Er weist auf einen Punkt etwa 100 Meter wei­ter. Dort sei­en die rus­si­schen Pan­zer gestan­den. Hin­ter ihnen sei­en Kre­ma­to­ri­en auf­ge­baut gewe­sen, in denen die Lei­chen der Sol­da­ten direkt ver­brannt wurden.

Als die Ukrai­ne die Städ­te wie­der unter ihre Kon­trol­le brach­te, fan­den sie gro­ßes Leid vor. Die Bewohner:innen waren wochen­lang von der Außen­welt, der Strom- und Was­ser­ver­sor­gung abge­schnit­ten. Auf den Stra­ßen lagen Lei­chen, dar­un­ter auch Kin­der, die dort auf bru­ta­le Wei­se umge­bracht und lie­gen­ge­las­sen wur­de. Sie wur­den gefes­selt, gefol­tert, geköpft. Der Mann, den wir nach dem Weg gefragt haben, ist weni­ge Wochen nach der ukrai­ni­schen Rück­erobe­rung in sei­ne Hei­mat zurück­ge­kehrt. Er erzählt, dass die her­ren­lo­sen Hun­de auf den Stra­ßen damals Glied­ma­ßen in ihren Mäu­lern trugen.

Heu­te erin­nert kaum etwas an das Grau­en in But­scha und Irpin. Es ist ein son­ni­ger Tag, die Men­schen tum­meln sich auf den Stra­ßen, auf denen vor einem Jahr noch die Lei­chen lagen. Sie gehen ein­kau­fen oder mit ihren Hun­den spa­zie­ren. Die grün gesäum­ten Stra­ßen mit den hüb­schen Ein­fa­mi­li­en­häu­sern erin­nern mich an mei­nen Hei­mat­ort. In einem Park sind Tram­po­li­ne und Hüpf­bur­gen auf­ge­baut. An sei­nem Rand steht ein Pan­zer, der wohl zum Klet­ter­ge­rüst umfunk­tio­niert wur­de. Ich höre Kin­der krei­schen und lachen. Wenn man nicht weiß, was sich hier vor etwas mehr als einem Jahr ereig­net hat, wirkt es hier idyl­lisch. Kei­ne Denk­mä­ler, Blu­men oder Ker­zen las­sen heu­te auf die Toten, die die­se Stra­ße gese­hen hat, schlie­ßen. Nur hin­ter einen gro­ßen ukrai­nisch-ortho­do­xen Kir­che besu­chen wir eine klei­ne Gedenk­stät­te, die wir ohne den Hin­weis des Pas­san­ten aber wahr­schein­lich nicht gefun­den hät­ten, so unschein­bar wirkt sie.

Nur wer nach den Spu­ren des Krie­ges sucht, wird fün­dig. Erst als wir uns dem Ver­lauf der ehe­ma­li­gen Front­li­nie nähern, häu­fen sich die Indi­zi­en. Da sind Ein­schuss­lö­cher in Zäu­nen, zer­split­ter­te Fens­ter, ver­las­se­ne Häu­ser, klei­ne Kra­ter in der Stra­ße. Je wei­ter wir in die Rich­tung der Linie gehen, des­to mehr wird es. Eini­ge weni­ge Häu­ser sind kom­plett ver­wüs­tet. Sie sind aus­ge­brannt, die Dach­stüh­le feh­len, im Inne­ren sta­peln sich nur noch Trüm­mer. Gegen­über einem sol­chem ein­ge­fal­le­nen Gebäu­de steht ein moder­nes Hoch­haus, in dem die Bewoh­ner geschäf­tig ein und aus gehen oder an ihren Fens­tern mit Blick auf die Zer­stö­rung die Son­ne genie­ßen. Die hei­le Welt des Neu­an­fangs reiht sich hier an die der Zerstörung.

10 Minuten bis zum Bunker

Kyiv ist eine lebe­din­ge Stadt. Auf den vie­len Kopf­stein­pflas­ter­stra­ßen zwi­schen den teil­wei­se rie­si­gen Hoch­häu­sern der Haupt­stadt tum­meln sich Autos, Stra­ßen­bah­nen, E‑Roller und Pas­san­ten. Auch die Ver­gan­gen­heit Kyivs ist bewegt, wie uns die Besich­ti­gung des Mai­dan vor Augen führt. Das Denk­mal der „himm­li­schen Hun­dert­schaft“ erin­nert an die hun­dert Men­schen, die bei den Euro-Mai­dan Pro­tes­ten 2014 ihr Leben lie­ßen. Damals begann an die­sem Platz die neue Geschich­te der Ukrai­ne. Heu­te weht an jeder Ecke die Flag­ge des Lan­des. Die majes­tä­ti­sche Sta­tue auf der Unab­hän­gig­keits­säu­le blickt über den Platz, die unter­ge­hen­de Son­ne spie­gelt sich in ihr und taucht die Sze­ne in gol­de­nes Licht. Die Stra­ßen sind voll von Men­schen. Aus den Bars, um die sie sich drän­gen, klingt Musik. Die Stim­mung ist fröh­lich und aus­ge­las­sen. Von Angst oder Anspan­nung kei­ne Spur, obwohl die Stadt in der Nacht zuvor noch beschos­sen wurde.

Auch hier in der Haupt­stadt sind die Spu­ren des lau­fen­den Krie­ges nur am Ran­de zu erken­nen. Uns fällt auf, dass es kaum Sou­ve­nir­lä­den gibt. Pan­zer­sper­ren und Stel­lun­gen aus Beton schüt­zen den Mai­dan- Platz und ver­sper­ren man­che Stra­ßen. In der Erde vor der Unab­hän­gig­keits­säu­le weht ein Meer aus klei­nen Flag­gen, die für die gefal­le­nen Sol­da­ten im Krieg ste­hen. Wie ein rie­si­ger blau-gel­ber Tep­pich. Auf vie­len haben die Ange­hö­ri­gen Bot­schaf­ten geschrie­ben. Direkt dane­ben spielt ein Schlag­zeu­ger, beglei­tet von einer Musik­box, eine rhyth­mi­sche Melo­die, die Pas­san­ten blei­ben um ihn ste­hen, sin­gen mit und tan­zen. Ich schi­cke mei­nen Eltern Vide­os von der Sze­ne, damit sie sehen, wie ruhig hier alles ist. Alle paar Stun­den, schrei­be ich ihnen, dass es mir gut geht. Seit ich in der Ukrai­ne bin, schla­fen sie kaum noch.

App-Warn­sys­tem bei Flugangriffsalarmen

Unse­re Hotel­zim­mer sind im Sou­ter­rain. Der nächs­te Bun­ker ist zehn Minu­ten ent­fernt, haben wir über das Inter­net her­aus­ge­fun­den. Als wir nach Schutz­maß­nah­men bei Angrif­fen gefragt haben, hat die ukrai­ni­sche Rezep­tio­nis­tin uns nur ver­wirrt ange­schaut. Irgend­wie beru­higt mich das. Auch die
aus­ge­las­se­ne Stim­mung auf dem Mai­dan gibt mir ein Gefühl der Sicher­heit. Die meis­ten von uns haben sich eine App auf das Han­dy gela­den, die uns warnt, sobald die Gefahr eines Luft­an­griffs aus­ge­macht wird. „Atten­ti­on Air Raid alert. Pro­ceed to the nea­rest shel­ter. Don’t be care­less. Your over­con­fi­dence is your weak­ne­ss”, sagt dann eine stren­ge Stim­me, beglei­tet vom Signal­ton einer Sire­ne. Um 00:40 Uhr höre ich die­ses Signal zum ers­ten Mal, ich wer­de davon geweckt. Bis auf mein Han­dy ist alles ruhig. Mei­ne Zim­mer­nach­ba­rin und ich che­cken das Inter­net, um wei­te­re Infor­ma­tio­nen zu bekom­men, und schrei­ben in unse­rer WhatsApp-Gruppe:

„Seid ihr wach?“
„Ja“
„Und was denk ihr so?“
„Ent­span­nen“
„Ok, dann pen­nen wir weiter.“

Es ist ein selt­sa­mes Gefühl sich umzu­dre­hen und zu schla­fen, in einer Stadt, die gera­de ange­grif­fen wird. Ich lie­ge noch kurz wach und ver­su­che zu hören, ob irgend­et­was unge­wöhn­lich ist. Aber die Stadt scheint zu schla­fen. Vie­le Kilo­me­ter über uns explo­die­ren gera­de Rake­ten, aber hier ist alles so fried­lich. Bald fal­len mir die Augen zu.

Doch nicht nur die Nacht, auch der nächs­te Tag wird von Luft­an­grif­fen beglei­tet. Wir ste­hen gera­de in der Son­ne vor dem rus­sisch-ortho­do­xen Höh­len­klos­ter auf einer Anhö­he Mit­ten in Kyiv, als unse­re Han­dys erneut Alarm schla­gen. Auch die Sire­nen der Stadt heu­len los. In sol­chen Fäl­len sol­len wir die Men­schen um uns beob­ach­ten, sie kön­nen die Gefahr bes­ser ein­schät­zen als wir, hat unser Pro­fes­sor uns gera­ten. Beun­ru­higt schau­en wir uns um. Aber beängs­tigt, gestresst oder gar panisch wirkt nie­mand. Man­che Pas­san­ten sehen eben­falls auf ihre Han­dys, ande­re in den Him­mel, aber die meis­ten lau­fen wei­ter, als wäre nichts gesche­hen. Kei­ner macht sich auf den Weg zur siche­ren U‑Bahn-Sta­ti­on, wie wir es kurz über­legt haben. Die Gläu­bi­gen vor dem Klos­ter unter­bre­chen ihre Gebe­te nicht. Sogar die Poli­zis­ten, die vor dem Klos­ter ste­hen, unter­hal­ten sich wei­ter, als wäre nichts. Das beru­higt mich, aber etwas mul­mig ist mir trotzdem. 

Wir gehen lang­sam wei­ter, haben unse­re Augen aber nach oben gerich­tet. Plötz­lich tei­len wei­ße Strei­fen, ähn­lich den Kon­dens­strei­fen von Flug­zeu­gen, den unschul­dig blau­en Him­mel in zwei Hälf­ten. Patri­ot-Abwehr­ra­ke­ten, die der Ukrai­ne von den USA zur Ver­fü­gung gestellt wur­den. Erst sehen wir einen Strei­fen, dann zwei, dann immer mehr. An ihren Spit­zen kann man die Flam­men sehen, die beim Start der Abwehr­ra­ke­ten ent­ste­hen. Vögel schre­cken auf, als sie hoch über Kyiv auf die rus­si­schen Iskan­der Rake­ten tref­fen, die auf die Stadt gefeu­ert wur­den. Das lau­te Knal­len, das der Deto­na­ti­on der Rake­ten folgt, spü­re ich in mei­nen Kno­chen vibrie­ren. Dort oben flie­gen die Rake­ten, hier unten in Kyiv geht das Leben fast unbe­rührt wei­ter. Weni­ge Minu­ten spä­ter kommt die Ent­war­nung von unse­ren Han­dys: „Atten­ti­on the Air Alert is over. May the force be with you“, sagt die Signal­stim­me in bestimm­ten Ton.

„May the Force be with you – möge die Macht mit dir sein“. Das ist ein Zitat aus den Star Wars Fil­men und ist dort ein Sym­bol der Hoff­nung und Stär­ke. Irgend­wie selt­sam, dass die­se App, die vor ech­ten Gefah­ren warnt, sich an einer Refe­renz aus Pop-Kul­tur­film bedient, bei dem es um Krie­ge zwi­schen Ali­en-Wesen im Welt­all geht. Aber das ist auch etwas, was mir in der Ukrai­ne auf­fällt: Zur Kriegs­stra­te­gie scheint es auch zu gehö­ren, die Leu­te so gut es geht bei Lau­ne zu hal­ten. Das zeigt sich nicht nur in der aus­ge­las­se­nen Stim­mung und den Par­tys, die wir in den Städ­ten beob­ach­ten, son­dern auch in ande­ren Berei­chen. Die Stra­ßen sind gesäumt von gro­ßen Pla­ka­ten, die Sol­da­ten und Pan­zer in heroi­schen Posen zei­gen und ihnen Mut zuspre­chen sol­len. Die Wor­te „Sla­va ukrai­nyi“ – Ruhm der Ukrai­ne“ – die auch Prä­si­dent Selen­skyj am Ende sei­ner meis­ten Reden spricht, sieht und hört man häu­fig. Über­all wehen die gelb-blau­en Flag­gen. In den Geschäf­ten sehen wir Toi­let­ten­pa­pier, das Putins Gesicht abbil­det, neben Klei­dung, Kar­ten und Anste­ckern mit dem Wap­pen der Ukrai­ne. Oft sind auch Sprü­che abge­druckt: „Ukrai­ne – my home, my love“, „Fight like a Ukrai­ni­an“, „be bra­ve like Ukrai­ne“. Hier zeigt sich deut­lich: Die Stär­ke eines Lan­des, beginnt in den Köp­fen ihrer Bevölkerung.

Dankbarkeit über humanitäre Hilfe und Aufmerksamkeit

Zwi­schen­durch fra­ge ich mich, ob das die­ser „Kri­sen­tou­ris­mus“ ist, über den ich Deutsch­land noch mit mei­nen Freun­den gespro­chen habe. Klar, wir ler­nen über den Krieg, beschäf­ti­gen uns damit, ord­nen alles ein, was wir sehen, haben einen kom­pe­ten­ten Pro­fes­sor für unse­re vie­len Fra­gen zur Sei­te. Aber wir sit­zen auch in Cafés, lachen, spie­len und geneh­mi­gen uns den ein oder ande­ren Drink. Aber wie soll­ten wir es ande­res machen? Alles ist so nor­mal. Wir ver­hal­ten uns so, wie wir es in einem sol­chen Umfeld gewohnt sind. Wol­len die­se Men­schen, die hier aus­ge­las­sen leben, unser Mit­leid, unse­re Betrof­fen­heit? Oder wol­len sie, dass wir ihrem Land mit Respekt begeg­nen und uns den Men­schen vor Ort anpas­sen? Ich kann das nicht abschlie­ßend beant­wor­ten. Wie wir uns ver­hal­ten haben, hat sich für uns meist rich­tig ange­fühlt. Die Men­schen vor Ort schie­nen wir nicht zu stö­ren. Gera­de Dienst­leis­ter waren froh, dass Rei­sen­de sie besuch­ten. Die Orga­ni­sa­ti­on, bei der wir unse­re huma­ni­tä­re Hil­fe abga­ben, zeig­te sich sehr dank­bar. Nicht nur für die Hilfs­gü­ter, son­dern auch dafür, dass wir ihrem Land Auf­merk­sam­keit schen­ken und uns trau­en, uns vor Ort umzusehen.

Ich bin dank­bar für die Erfah­run­gen, die ich in der Ukrai­ne machen durf­te. Die Nähe von Nor­ma­li­tät und Bru­ta­li­tät wur­de mir hier zwi­schen Ape­rol und Abwehr­ra­ke­ten mit gan­zer Wucht deut­lich. Wo Krieg ist, da ist auch immer die Sehn­sucht nach All­tag. In dem Rah­men, in dem der Krieg es zulässt, wird die Nor­ma­li­tät her­ge­stellt, sich dar­an geklam­mert. Die Rea­li­tät schlägt in die­ser leich­ten Welt aus Par­ty und Lebens­freu­de dop­pelt hart zu. Vie­le Situa­tio­nen wer­de ich nie vergessen.

In Lviv singt ein Mann auf einem Bal­kon Shape of my Heart von Sting mit einer E‑Gitarre. Die Men­schen fas­sen sich an den Hän­den und tan­zen. Durch die aus­ge­las­se­ne Men­ge drängt sich ein Sol­dat in Uni­form. Er trägt das Zei­chen einer Divi­si­on, die vor kur­zem noch in Bach­mut gekämpft hat, wo gera­de mit die schwers­ten Kämp­fe geführt wer­den. Vor zwei Wochen war er noch in der Höl­le. Heu­te steht er inmit­ten von tan­zen­den Men­schen, die ihr Leben genie­ßen. Über den Platz schal­len die Zei­len: „I know that the spa­des are the swords of a sol­dier, I know that the clubs are wea­pons of war, I know that dia­monds mean money for this art, But that’s not the shape of my heart“.